Kapitel 22.2 - Familie ✅

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Und dann lagen wir uns doch tatsächlich in den Armen. Wer hätte das gedacht? Meine leibliche Mutter und ich. Ich konnte Will lächeln sehen.

Ehe wir uns versahen, fand ich mich in einer Gruppenumarmung wieder. Meine Großeltern, mein Bruder und meine Mutter. Es war ein schönes Gefühl. Mir kam es vor, als würde ich schweben. So leicht hatte ich mich noch nie gefühlt. Wovor hatte ich eigentlich solch eine Angst gehabt?

Damon jedoch schien sich unwohl zu fühlen. Kein Wunder, immerhin hatte er gesagt, er würde hier festgehalten. Und da seine und meine Familie eine blutige Vorgeschichte hatten, fürchtete er vielleicht, nicht mehr lebend fortzukommen. Er tat mir leid. Natürlich hatte ich nicht vergessen, dass er mir gesagt hatte, er würde mich töten müssen, sollte ich meine Kräfte nicht unter Kontrolle bekommen. Aber wie konnte ich ihm das verübeln? Meine Kräfte fürchtete selbst ich. Und noch hatte er mich nicht getötet. Dennoch konnte ich ihn und seine Handlungen nicht einschätzen. Er war ein Jäger. Es war seine Aufgabe, Geistelementare wie mich zu töten. Egal, ob gut oder böse. Doch er tat es nicht.

Nach einer Weile lösten wir alle uns alle wieder voneinander und meine Großeltern, wie auch meine Mutter lächelten mir zu, sodass mir ganz warm ums Herz wurde.

»Es ist so schön, dass du wieder da bist!«, sagte meine Großmutter sanft lächelnd und ihre Grübchen kamen zum Vorschein. Wie jede Oma eben so war, knuff sie mir in die Wange und seufzte. »Hach, du bist ja schon so groß.«

»Und so alt.«, fügte mein Großvater brummend hinzu und gab ein grimmiges Grinsen von sich.

»Es war notwendig.«, sagte meine Mutter leise.

»War es das?«, erwiderte mein Großvater. Für einen Moment huschte ein frostiger Ausdruck über das Gesicht der schmalen Frau. Doch so schnell, wie er kam, verschwand er auch, sodass ich ihn mir hätte einbilden können.

»War es.«, meinte sie. »Sie lebt. Nichts anderes zählt.«

»Will lebt auch.«, sagte der alte Mann. »Und ihn hast du nicht ohne unser Wissen weggegeben.« Verwirrt lauschte ich dem Wortaustausch. Ohne sein Wissen? Hieß das, dass niemand außer meiner Mutter davon gewusst hatte, dass sie mich hatte weggeben wollen? Aber wieso?

»Es war notwendig.«, wiederholte sie entschieden. »Irgendwann wirst du das verstehen.«

»Aha. Irgendwann, ja?«, skeptisch musterte der alte Mann sie und sagte nichts mehr. Dennoch war ihm anzusehen, dass er sich seinen Teil dachte. Und irgendetwas an den Worten meiner Mutter, ließ mich unruhig werden. Als steckte mehr hinter ihnen, als ich erkennen konnte. Wieso nur fühlte sich das so an? Sie schien mir wie eine liebe Frau, die sich freute, dass ich wieder da war. Wieso also wirkten ihre Worte so finster?

Meine Mutter warf mir noch einen Blick zu. »Will, wir gehen. Sie soll erst einmal zur Ruhe kommen.« Sie nahm Will wie ein kleines Kind an der Hand und führte ihn die Tür hinaus, die sie hinter uns schloss. Ich wusste wirklich nicht, was ich davon halten sollte.

Als ich zu Damon sah, mit dem man mich allein gelassen hatte, - was ich überhaupt nicht nachvollziehen konnte - bemerkte ich, dass er noch immer forschend in die Richtung blickte, in die meine Mutter verschwunden war. Doch seine Gedanken verriet er mir nicht.

»Wieso lassen sie dich mit mir allein?«, fragte ich. Das ergab überhaupt keinen Sinn. Nun schwenkte seine Aufmerksamkeit wieder zu mir. »Sie denken, dass ich keine Schwierigkeiten bereiten werden, wenn du dabei bist.«, antwortete er.

»Und? Stimmt das?« Wieso sollten sie das glauben?

Er zuckte bloß mit seinen Schultern. »Was soll ich schon groß tun? Das hier ist ein Haus voller Geistelementare. Ich habe keine Chance, weshalb ich gar nicht erst etwas versuchen werde. Ganz gleich, ob du dabei bist oder ich alleine bin.« Kurz musterte er mich nachdenklich. Dann sagte er: »Willst du es sehen?«

»Was?«

»Dein Auge.«, ergänzte er. Ich musste schlucken, nickte aber trotzdem. Also ging Damon zu der Kommode und nahm den Handspiegel, der darauf lag, und reichte ihn mir wortlos. Mit klopfendem Herzen nahm ich ihn in die Hand und starrte auf mein Spiegelbild. Und ich wünschte, ich hätte es nicht getan.

Schockiert starrte ich auf mein Abbild und dachte, dass das nicht wahr sein könne. Aber so war es. Und ich konnte nichts daran ändern. Rein gar nichts. Wie zuvor zog sich eine Narbe durch mein Auge. Nur war diese länger und nicht mehr so unauffällig, wie meine Narbe, die ich von Damon hatte. Diese war nicht blass, sondern rötlich und fing ein paar Zentimeter über meiner Augenbraue an und ging bis einige Zentimeter unter mein Auge. Diese Narbe war auffällig. Man konnte sie nicht übersehen.

Doch das, was mich am meisten schockierte war mein Auge. Es war nicht mehr dieses ungewöhnliche sturmgrau, das ich geliebt hatte.

Stumm sah ich mein Auge an. Sturmgrau war schon nicht gewöhnlich gewesen. Aber das? Das war alles andere, als normal. Es war violett. Wie konnte das passieren?

»Deine Großmutter hat ein wenig ihrer Kraft auf dich übertragen und versucht, es zu retten.«, sagte Damon. »Ich schätze, dadurch hat sich dein Auge lila verfärbt.«

Ich nickte nur. Darüber, ob das für mich nun logisch klang oder nicht, konnte ich gar nicht nachdenken. Mit zitternder Hand legte ich den Spiegel wieder weg. Jetzt würden mich in der Schule erst recht alle anstarren. Dann schluckte ich. Nein, würden sie nicht. Ich würde niemals wieder in die Schule zurückkehren können. Frustriert raufte ich mir die Haare.

»Was ist los?«, fragte Damon, während ich mich zurück auf das Sofa setzte.

»Ich werde nicht zurück können.«, sagte ich leise. Er sagte dazu nichts und auch ich schwieg.

Der Tag, an dem ich zum ersten mal durch das große Tor geschritten war, kam mir schon so vor, als sei er Ewigkeiten her. Seither hatte sich so viel verändert. Und dabei war es doch in Wirklichkeit noch gar nicht so lange her. Aber es kam mir so vor. Was alles in der Zeit passiert war ... Es war kaum zu fassen, wie sich das alles entwickelt hatte.

Dennoch spürte ich, dass etwas anders war. Damon hatte gesagt, meine Großmutter hatte etwas ihrer Kraft auf mich übertragen. Es war, als wäre ich wieder ganz ich selbst. Als hätte ihre Kraft die meine in die Schranken gewiesen und irgendwie beruhigt. Doch für wie lange? Für wie lange würde dieses Gefühl anhalten, ehe meine Kraft sich wieder entschloss, dass es mit der Ruhe und dem Frieden vorbei war? Ehe sie mich wieder in den Abgrund stieß?

Egal, wie es jetzt war. Ich musste lernen, mit meinen Fähigkeiten klar zu kommen. Und das würde ich! Nicht nur um mein Leben zu retten, sondern auch das der anderen. Wie lange würde es dauern, bis ich nicht nur Jägern und verräterischen Freundinnen das Leben raubte, sondern auch Menschen, die ich liebte?

Mit einem Mal war ich froh, dass Damon hier war. Er würde mich aufhalten können, würde ich die Kontrolle verlieren. Zumindest was das anging, konnte ich ihm vollkommen vertrauen.



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