Kapitel 63 - Mitternacht

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Lässig saß Theodor neben mir auf dem Sofa. Von seiner Unsicherheit war nichts mehr zu spüren. Ein seltsames Grinsen lag auf seinen Lippen. Vor wenigen Sekunden hatte ich es noch als beruhigend empfunden. Mir war beinahe schon ein Stein vom Herzen gefallen, als ich es gesehen hatte. Doch nun? Nun erinnerte es eher an Rachsucht und Schmerz. Theodors Augen hatten sich verdunkelt und ich konnte etwas Düsteres in ihnen vorfinden. Jeder von uns schien sein ganz individuelles Päckchen tragen zu müssen.

Desdemona mit dem Wissen, dass ihre eigene Tante sie verraten hatte und Schuld am Tod ihrer Eltern war.
Ariadne, deren Eltern sie zu formen versuchten und sie nicht so akzeptiert hatten, wie sie nun einmal war, weswegen sie letzten Endes ihre Freiheit bei den Jägern gesucht hatte.
Liam, der die Jäger abgrundtief verachtete. Auch ihm schienen sie in seiner Vergangenheit etwas angetan zu haben.
Theodor, dessen Miene sich nun komplett verzerrt hatte. Verbittert starrte der ,eigentlich so liebenswürdige, Junge in die Leere. Vielleicht gab es einen Grund, weshalb er sich hinter seinen Videospielen versteckte. Einen anderen, als ich zuvor angenommen hatte.
Und dann war da noch ich. Vollkommen überfordert, aber entschlossen.

"Hör auf zu grinsen.", sagte Liam trocken. "Das ist unheimlich." Theodors Grinsen erlosch. Zurück blieb nur der düstere Schmerz in seinen Augen. "Und du bist viel zu ernst.", brummte Theodor. Empört schnaubte Liam auf. "Das hat damit doch nichts zu tun!", rechtfertigte er sich und machte einen drohenden Schritt auf den großen Jungen zu. Der reagierte nur, indem sein Blick zu Liam schwenkte. Kaum hatte Liam den Ausdruck seiner Augen gesehen, zog er sich mit einem leisen "Sorry" wieder zurück. Desdemona und ich beobachteten das alles skeptisch. Theodor konnte tatsächlich Leute zum Schweigen bringen. Und das allein mit einem Blick. Vielleicht würde er gegenüber den Jägern ziemlich respekteinflößend rüberkommen. Es war wohl wirklich eine gute Entscheidung gewesen, Theodor einzuweihen. Ich würde es nicht bereuen. Da war ich mir mittlerweile sicher.

Theodor musste nur endlich aus seinem Schneckenhaus heraus kommen. Das mussten wir alle. Wir mussten unsere Zweifel und Ängste hinter uns lassen. Wir durften uns von unserer Vergangenheit nicht aufhalten lassen. Wir würden sie bezwingen müssen. Aus ihr Kraft schöpfen und kämpfen. Für ein Leben ohne Angst. Für unsere Freiheit. Für die Elementary.
Und heute Nacht würden wir den Anfang machen. Den Angang vom Ende.

Ich glaubte, unterbewusst war jedem klar, worauf es hinaus laufen würde. Auf den endgültigen Kampf. Der darüber entschied, wie es weiter gehen würde. Mit uns, wie auch mit den Jägern.

Die Aufmerksamkeit lag auf mir, kaum hatte ich mich erhoben. Theodors müde Augen, die Erwartungsvollen von Desdemona und Liams Entschlossene lagen auf mir. Sie schienen von mir erwarten, dass ich sie führte. Dass ich ihnen sagte, wie wir es in Angriff nehmen sollten. Ich wusste nicht weshalb. Doch ich hinterfragte es auch nicht. Ich hatte ganz andere Dinge, auf die ich mich konzentrieren musste. "Um Mitternacht treffen wir uns alle in der Eingangshalle.", entschied ich. "Und ich werde dafür sorgen, dass Ariadne auch da sein wird."
"Können wir das nicht ohne die machen?", wollte Liam mit vor der Brust verschränkten Armen wissen. "Wir brauchen sie doch gar nicht. Außerdem -" Er sah einmal in die Runde, ehe er seinen Blick wieder mir zuwandte. "Wer sagt, dass sie uns nicht verraten wird? Dass sie uns nicht in eine Falle lockt?" Seine Augen lagen intensiv auf den meinen. "Du kannst mir nicht sagen, dass du Ariadne vertraust. Denn das tust du ganz bestimmt nicht. - Keiner von uns."
Desdemona wollte sich schon aus ihrem Sessel erheben und Liam ihre Meinung sagen, doch ich hob meine Hand und verdeutlichte ihr somit, dass sie mich das machen lassen sollte. Grummelnd ließ sie sich zurück in ihren Sessel sinken und schlug ihre Beine übereinander.
Ruhig wandte ich mich Liam zu. "Du hast recht. Ich vertraue Ariadne nicht. Und das sollte ich auch nicht. Aber ich vertraue darauf, dass sie alles tun wird, um ihre Geschwister vor den Jägern zu beschützen."
"Und wieso sollte sie das tun?", warf Theodor ein. "Sie gehört doch selbst zu den Jägern."
Ich seufzte. "Das ist alles ein wenig kompliziert. Erst einmal musst du wissen, dass Ariadne es mit ihren Eltern nicht leicht hatte. Dass sie nur ihre Geschwister hatte, an die sie sich halten konnte. Sie bedeuten ihr alles.", erklärte ich Theodor, der bloß nachdenklich nickte. "Wenn die Jäger herausfinden, dass Ariadne Leute hat, die ihr etwas bedeuten, haben sie ein Druckmittel gegen sie in der Hand. Und das will sie um jeden Preis verhindern." Ich drehte mich wieder zu Liam. Sah ihm fest entschlossen in die Augen. "Darauf kannst du vertrauen."
Niemand hatte mehr irgendetwas auszusetzen.

Jeder von uns brachte den Tag so gewöhnlich wie nur möglich hinter sich. Wenn wir etwas überhaupt nicht gebrauchen konnten, dann war es Aufmerksamkeit. Niemand sollte auch nur den Hauch eines Verdachts haben, dass wir etwas planten. Vor allem Cassandra Darkstone nicht. Die würde es uns nämlich entweder versuchen auszureden, oder zu verbieten. Wir wussten zwar alle, dass wir das Verbot ignorieren würden, dennoch wollten wir Cassandra Darkstones Macht nicht herausfordern, die sie garantiert einsetzen würde, um uns von unserem Vorhaben abzuhalten.

Nachdem wir aus dem ehemaligen Gemeinschaftsraum verschwunden waren, hatten wir darauf geachtet, dass man uns vier nicht mehr zusammen sah. Nicht einmal beim Mittag- oder Abendessen. Desdemona und ich hatten unsere Zeit zusammen verbracht. Beim Abendessen hatten wir bei meinem Bruder und Nawin gesessen. Wir hatten wie auf heißen Kohlen gesessen, sodass Desdemona nicht einmal versucht hatte einen Streit mit Nawin zu provozieren. Das hatte ihr einige komische Blicke von Nawin und meinem Bruder eingebracht.
Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen. Versuchte mich mit Will zu unterhalten, doch auch er bemerkte, dass irgendetwas nicht stimmte. Vielleicht lag es an meinem Blick. Vielleicht auch an meiner Körperhaltung. Natürlich war ich angespannt. Will harkte nicht nach. Er beließ es dabei und hoffte, dass ich es ihm irgendwann sagen würde. Er würde warten müssen.
Als mein Blick kurz zu dem Tisch der Glacials schweifte, musste ich verärgert feststellen, dass Ariadne überhaupt keine Probleme hatte, sich normal zu verhalten. Was mich aber am aller meisten ärgerte war, dass sie nicht einmal nervös war. Verdammt, sie war eine Maschine! War sie überhaupt ein klein wenig menschlich? Fühlte sie überhaupt?! Ich hatte es so was von satt. Ihr Verhalten. Ihre verfluchte Emotionslosigkeit. Ihre verdammte Gewissenslosigkeit.
Und in diesem Moment kam sie mit tatsächlich mehr wie ein Monster vor, als ich eines war.
"Ist alles okay bei dir?", fragte mein Bruder mich, der meinem Blick gefolgt war. Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete er Ariadne. Natürlich erinnerte er sich an die Szene vom Frühstück. "Alles okay.", presste ich heraus und zwang mich meinen Blick von Ariadne zu nehmen, die gerade über irgendetwas ,was Dylan gesagt hatte, ausgelassen lachte. Selbst dieses Lachen hatte etwas vollkommen Falsches an sich.
Und plötzlich, für die Dauer eines Augenzwinkerns, schaute Ariadne zu mir und grinste. Spöttisch. Heimtückisch. Höhnisch. Das waren die ersten Worte, die mir dazu einfielen. Es war, als wollte sie mir nur weiter unter die Nase reiben, dass sie mit all dem klar kam. Dass es sie nicht störte. Nein, dass es ihr sogar gefiel, was wir vorhatten. Und ich hasste sie ein klein wenig mehr. Doch so schnell wie das Grinsen kam, wandte sie ihren silbernen Kopf wieder ab und es war, als wäre das nur Einbildung gewesen.

ObscuraWhere stories live. Discover now