Kapitel 37 - Familiengeheimnisse und bevorstehende Bedrohung

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Ich kam mir völlig fehl am Platz vor. "Tante Cassandra." erklang es immer und immer wieder in meinem Kopf. Wie ein nie enden wollendes Echo. Ich stand einfach da und kam mir vor, wie so ein kleines, unwissendes Mädchen, dem gerade gesagt worden war, dass ihre Mutter nicht ihre Mutter war. Nun gut. Ich übertrieb. So eine extrem Situation war es nun auch wieder nicht.

Desdemona fühlte sich unwohl. Ihre Füße wippten vor sich hin und sie mied jeglichen Blickkontakt.

Cassandra Darkstone wirke ziemlich überrascht. Sie starrte einfach nur Desdemona an, die allen Anschein nach ihre Nichte war. Nachdem auch Lady Darkstone diese Überraschung verdaut hatte, erschien ein leises Lächeln auf ihren Lippen, während sie Desdemona musterte.

"So hast du mich schon lange nicht mehr genannt." Ihre dunklen blauen Augen suchten Desdemonas. Sie wirkte ein wenig aufgelöst, als sie eine ihrer wilden schwarzen Strähnen aus ihren hochgesteckten Haaren zwirbelte.

Desdemona presste ihre Lippen aufeinander, schien mit sich zu ringen. "Das hatte auch einen guten Grund." Sie kam nicht darum herum, diesen Satz zu sagen. Er platze einfach aus ihr heraus und ich kam nicht darum herum mich zu fragen, was wohl zwischen Desdemona und Lady Darkstone passiert war. Wieso war Desdemona hier, wenn sie ihre Tante dem Anschein nach so hasste?

Lady Darkstone erhob sich und strich kurz eine Falte ihres heute dunkelblauen Kleides glatt, ehe sie ihren Blick wieder auf Desdemona legte.

"Ich weiß." Sie lächelte gequält und sie atmete einmal tief durch. Dann verschwand ihr Lächeln und ihr aufmerksamer Blick durchbohrte uns. "Ihr seid doch nicht ohne Grund hier. Also. Was ist los?" Unter ihrem Blick fühlte ich mich so, als würde sie uns durchleuchten. Dieses Gefühl mochte ich nicht. Wie auch? Es war, als würde sie alle meine Geheimnisse lesen können, als wäre ich ein offenes Buch. Diesen Blick würde niemand mögen.

Desdemonas Blick ließ darauf schließen, dass sie ihre Tante am liebsten mit Vorwürfen anschreien wollte. Doch sie riss sich zusammen. Es ging immerhin um etwas Wichtiges.

"Also. Ich höre?" Lady Darkstone wartete. Ihr Blick huschte immer wieder zu Desdemona, als erwartete sie irgendetwas von ihr zu hören. Sie schien sich danach zu sehen, wieder gut mit ihr auszukommen und die verschleierte Vergangenheit hinter sich zu lassen. Doch Desdemona gab ihr keine Chance. Sie öffnete nicht einmal den Mund, um mit reden anzufangen. Die Spannung in diesem Raum war erdrückend. Zwischen Desdemona und der Direktorin knisterte die geladene Spannung. Würde einer explodieren, würde alles im Chaos enden.

Ich wusste nicht, ob ich wirklich wissen wollte, was zwischen den beiden vorgefallen war. Na gut, doch. Ich war neugierig. Aber Desdemona sollte es mir selbst erzählen, wenn sie bereit dazu war.

Vor Desdemonas Gesicht schob sich eine eisige Maske. Nun wirkte sie völlig unbeteiligt. Als hätte sie gar nichts mit alle dem zu tun, als wäre alles nie geschehen. Sie wirkte wie eine unbeteiligte Berichterstatterin.

"Ariadne Glacial ist eine Jägerin." Desdemona verzog das Gesicht nicht, obwohl es ihr wirklich schwer zu fallen schien. Doch sie hatte sich unter Kontrolle und würde die Kontrolle auch nicht so leicht wieder verlieren. Zumindest nicht vor ihrer Tante.

Allerdings fielen dunkle Schatten über das Gesicht von Lady Darkstone. Sie schien in Gedanken weit weg, an einem anderem Ort, in einer anderen Zeit. Weit weg von hier. Mit Mühe brachte sie ein einzelnes Wort heraus. "Woher?"

Desdemona lachte kalt auf. "Woher ich das weiß? Woher ich das weiß, fragst du dich?! Ich kann dir sagen, woher ich das weiß!" Sie redete sich in Rage, ihre Stimme wurde immer lauter und Lady Darkstone schien immer kleiner zu werden, während es schien, als würde Desdemona immer größer ihr gegenüber werden. Mit jedem weiteren Wort schritt Desdemona weiter auf ihre Tante zu. "Ein Jäger! Hörst du?! Ein Jäger war hier! Hier in deinem ach so sicherem Bunker, indem du dich bereits seit Jahren vor deiner Verantwortung und den Gefahren außerhalb deiner Mauern versteckst! Doch du kannst dich nicht ewig verstecken! - Hör mir gefälligst zu! - Ein Jäger war in den Kerkern! An seinem Messer tropfte Blut! Frisches Blut! Weißt du, was das heißt? - Natürlich weißt du das. - "

Desdemona stand nun bedrohlich nahe bei ihrer Tante. Desdemona schien ihre Tante mit ihrem eisernen Blick zu erdolchen. Diese schien im Boden zu versinken. So hatte ich Lady Darkstone noch nicht gesehen. Mir war sie wie eine mächtige, unberechenbare Frau vorgekommen, mit einer beeindruckenden Ausstrahlung. Nun war ebendiese Frau nur noch ein Häufchen Elend, das zu dem ziemlich entsetzt aussah. Vielleicht kam es mir nur so vor, aber wollte Desdemona diese Frau so am Boden sehen? So gebrochen?

Desdemona packte ihre Tante an den Schulter und ihre stechend grünen Augen sahen fest in Lady Darkstones dunkelblaue. "Du tust gefälligst etwas dagegen! - Nicht, dass es so endet, wie das letzte mal! Ich lasse nicht zu, dass du wieder Schuld am Tod Anderer trägst, verstanden?! - Er hat etwas davon gesagt, dass die Jäger bereits unter uns sind. Ariadne ist seine Informantin und wenn er hier hinein konnte, werden es auch andere können. Also reiß dich verdammt noch mal zusammen! Wahrscheinlich werden die Jäger bald deine schützenden Mauern stürmen und alle Ghost Elementary töten, die sie finden können! Und auch die Schatten!" Sie warf mir einen Blick zu. "Sie suchen jemanden."

Lady Darkstones Blick folgte Desdemonas und fiel auf mich. Ich schluckte. Jetzt war ich wohl an der Reihe. Mit entschlossenen Blick trat ich einen Schritt nach vorne und langsam veränderte sich meine Gestalt. Sie wurde wieder die Meine. Meine Haare, meine Gesichtsform, meine verschiedenen Augen, mein Körper. Ich spürte die Blicke der beiden Anwesenden auf mir. Doch ich wusste, ich tat das richtige. Wie sollte Lady Darkstone sich auf die bevorstehende Bedrohung durch die Jäger vorbereiten, wenn sie nicht einmal wusste, mit was sie es eigentlich zu tun hatte?

Lady Darkstones Blick zeigte Erstaunen. Langsam erhob sie sich wieder, ließ ihren Blick nicht von mir. Desdemona besah sie misstrauisch. Traute sie ihrer Tante zu, mich an die Jäger auszuliefern?

Mit vorsichtig bedachten Schritten kam Lady Darkstone auf mich zu, musterte jeden Zentimeter von mir. Nun wirkte sie wieder wie die Frau, die ich kennen gelernt hatte. Ruhig und mächtig.

Ihre dunkel umschminkten Augen musterten mich stechend. Ihre dunkle Ausstrahlung machte die situation nicht besser. "Mika Lunar-Eclipse. Welch eine Überraschung, ausgerechnet dich hier zu sehen."

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