Kapitel 56 - Nawin und Desdemona

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Da steckte doch mehr dahinter, als ich erahnte, oder? Ich sollte sie vielleicht einmal darauf ansprechen. Aber nicht hier. Nicht jetzt. Später. Wenn wir alleine waren. Ich glaubte nicht, dass sie das vor allen anderen besprechen wollte. Nun schwiegen sie beide und mieden den Blick des jeweils anderen. Will und ich sahen einander kurz fragend an. Wir beide zuckten beinahe gleichzeitig mit unseren Schultern. Er wusste es also auch nicht. Nun ja, er kannte Nawin auch noch nicht gerade lange. Es war recht unwahrscheinlich, dass dieser ihn bereits in seine Lebensgeschichte eingeweiht hatte.

Das Abendessen verlief recht schweigsam, seit Desdemona und Nawin die paar Worte gewechselt hatten. Will versuchte es ein mal, Nawin wieder in ein Gespräch zu verwickeln, doch dieser antwortete nur knapp und verstummte dann wieder.

„In unserem Zimmer hat er ziemlich viel geredet.", informierte Will mich flüsternd, als wollte er Nawins Verhalten irgendwie entschuldigen.

„Ja, ja, ich glaube dir. Du musst ihn nicht vor mir rechtfertigen, Will.", flüsterte ich ihm zu. Plötzlich bemerkte ich, wie Nawin und Desdemona sich anspannten und in eine Richtung schauten. Ich runzelte skeptisch meine Stirn. Nawin sah irgendjemanden vernichtend an, während Desdemona recht unsicher in die selbe Richtung starrte. Ich folgte ihrem Blick und bemerkte Liam, der an einem anderen Tisch saß und uns nun auch bemerkt hatte und herüber sah. Aus seiner Miene konnte ich nicht lesen, was er in diesem Moment dachte oder fühlte. Dem Anschein nach schien auch Nawin Liam zu kennen und war so wie es gerade aussah, nicht besonders gut auf ihn zu sprechen. Ich sollte Desdemona definitiv einmal fragen, woher sie Nawin kannte und war vorgefallen war, denn sie war nicht gerade besonders freundlich zu ihm.

„Nervt der dich immer noch?", fragte Nawin Desdemona, während er Liam vernichtend ansah. Desdemona schien nicht zu wissen, was sie sagen sollte. Sie schaute kurz zu mir, als erwartete sie, dass ich ihr die richtige Antwort sagen würde. „Nicht mehr so wie früher.", sagte sie dann bloß. Nawin zog eine Augenbraue hoch und nun lagen seine Augen auf Desdemona. „Nicht mehr so wie früher? Ich habe doch letztens noch mitbekommen, wie er seine Schatten auf dich gehetzt hat!" Er sah kurz zu mir. „Das bist doch du gewesen, oder? Die ihn aufgehalten hat, Des unter seinen Schatten zu begraben." Ich nickte und stockte. Des? War das ein Spitzname von Desdemona? Und wenn er sie bei einem Spitznamen nannte, musste das bedeuten, dass sie sich einmal ziemlich gut verstanden haben, denn Desdemona hasste es, bei ihrem Namen genannt zu werden und ich glaubte, Spitznamen mochte sie auch nicht besonders. Doch Desdemona sagte nichts. Sie schnaubte nur einmal kurz, als sie hörte, dass Nawin sie „Des" nannte. Will fand das Ganze natürlich nicht ganz so merkwürdig, wie ich. Immerhin kannte er Desdemona, im Gegensatz zu mir, nicht.

„Es ist besser geworden.", meinte Desdemona. „Seit ..." Sie verstummte. Nawin sah sie fragend an. „Seit ... ?", harkte er nach. Doch Desdemona antwortete ihm nicht. Nawin seufzte. „Es tut mir leid, okay?" Desdemona sah ihn nicht an. Sie ignorierte ihn. „Des, nun komm schon. Du kannst mir doch nicht ewig sauer sein!" Desdemona funkelte ihn wütend an. „Ach, kann ich nicht? Wollen wir wetten?", provozierte sie.

Nawin verdrehte seine Augen. „Du bist wirklich unmöglich ... Ich habe mich doch bereits mehrmals entschuldigt und dir auch den Grund genannt!" Ich konnte sehen, dass er langsam wütend wurde. Will verfolgte das Geschehen genauso gespannt wie ich. Auf einmal fiel ein Schatten auf unseren Tisch. Wir alle sahen auf. Vor unserem Tisch stand Liam. Und der sah ganz und gar nicht glücklich aus. „Ach, du sprichst wieder mit ihm.", sagte Liam verächtlich, während er erst Desdemona und anschließend Nawin ansah. Nawin und Liam fochten ein Blickduell aus. Irrte ich mich, oder sahen Desdemona auf Grund seines Tonfalles leicht verletzt aus? Ich sah zu Liam. Auch der wirkte nicht ganz so verächtlich, wie er es vorgeben wollte zu sein. War er etwa eifersüchtig?

„Tu ich gar nicht!", zischte Desdemona.

„Du kannst nicht ewig sauer sein!", warf Nawin ein und sah Liam provozierend an. „Irgendwann wirst du wieder mit mir reden müssen!" Wieder bewarfen Nawin und Liam sich Todesblicke zu. „Und du!", zischte Nawin, während er Liam hasserfüllt ansah. „Wie kannst du es eigentlich wagen, hier aufzutauchen und sie weiterhin zu nerven, nach dem, was du die Jahre über abgezogen hast?" Liam wollte irgendetwas daraufhin erwidern, doch ihm schien nichts einzufallen. Er presste seine Lippen fest aufeinander, warf Desdemona noch einen kurzen Blick zu, ehe er sich verzog. In mir kamen Schuldgefühle auf. Liam war sauer auf Desdemona, weil sie von all dem gewusst hatte. Von mir. Und weil sie bei mir war und zu mir stand. Es war meine Schuld, dass sie beide wieder am Anfang standen. Würden sie jemals wieder normal miteinander reden können? Und was war das mit Nawin? Er und Liam schienen sich regelrecht zu hassen.

„Was war das denn eben?", fragte mein Bruder mich leise.

„Ich habe keine Ahnung.", flüsterte ich ihm zu. „Aber ich finde es heraus." Will grinste. „Natürlich tust du das. Desdemona ist deine beste Freundin, richtig?" Ich nickte. „Sie wird es dir sagen.", sagte Will. „Bestimmt. Und wenn nicht, dann lass ihr Zeit." Er grinste noch einmal, ehe er aufstand und seinen leeren Teller wegbrachte.

Vorwurfsvoll sah Nawin nun zu Desdemona. „Gibst du dich etwa mit dem ab?!" Er deutete mit einem Kopfnicken in die Richtung, in die Liam verschwunden war.

Desdemona knallte wütend ihr Glas auf den Tisch, aus dem sie gerade noch hatte Trinken wollen. „Was interessiert dich das? Halt dich aus meinen Angelegenheiten raus, Klahan!" Ich bemerkte die dunklen Schatten, die sich unten auf dem Boden um Desdemona herum sammelten. Alarmiert sah ich sie an. Desdemona war wütend.

„Wir sollten gehen.", sagte ich leise. Ob Desdemona mich hörte oder nicht wusste ich nicht. Jedenfalls reagierte sie nicht. Ihre Augen lagen vor Wut funkelnd auf Nawin. Ich spürte die Anspannung. Würde Nawin noch einen Ton sagen, würde Desdemona ausflippen. In diesem Moment erinnerte sie mich ein klein wenig wieder an die Desdemona, die am Anfang kennen gelernt hatte. Die Desdemona, mit den extremen Stimmungsschwankungen, von der ich nicht wusste, ob sie mich nun mochte oder verabscheute. „Desdemona!", sagte ich mit Nachdruck. „Komm! Wir gehen!" Ich stand auf und nun schien das auch Desdemona zu bemerken. Sie überlegte einen Moment, ehe sie ebenso wie ich aufstand. Nawin würdigte sie nicht mehr einen Blick. In diesem Moment kam auch mein Bruder zurück, der uns fragend ansah. Ich zuckte nur mit den Schultern und machte ihm deutlich, dass wir später reden würden. Will nickte und setzte sich wieder neben Nawin, dessen Gesichtsausdruck unlesbar war. Desdemona und ich kehrten den beiden den Rücken zu und verließen den Saal. Der Gang draußen war eigentlich noch ziemlich leer, da die meisten Schüler noch immer mit ihrem Essen beschäftigt waren. „Dieser Nawin!", fing Desdemona auch schon an ihrer Wut Luft zu machen. „Was erlaubt der sich?! Der kann doch nicht einfach auftauchen und so tun, als sei nichts gewesen! Oder?!" Sie sah zu mir. Wartete auf eine Antwort. Wir beide waren stehen geblieben. Abwartend sah sie mich an. Ich zuckte mit meinen Schultern. „Desdemona, ich weiß doch noch nicht einmal, worum es geht. Würdest du mich aufklären und wir können darüber reden, oder willst du es lassen?" Sie sah mich lange an. „Stimmt. Du weißt das ja nicht." Dann seufzte sie. „Ich erzähle es dir." Sie sah sich kurz um, als wollte sie sicherstellen, dass wir alleine waren. „Aber nicht hier."


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