Kapitel 66 - Das Verhör

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Fassungslos lagen Damons Augen auf mir. Entdeckte ich da etwa auch einen Hauch von Angst? Ich schluckte. Das Gefühl in meiner Magengegend war kaum auszuhalten. Ich war nervös. Aber weshalb? Weder Damon, noch seine anderen Jäger konnten mir irgendetwas antun. Doch fürchtete ich mich davor? Dass sie mit etwas antaten? Ich horchte in mich hinein. Nein. Tat ich nicht.

Als ich erneut zu Damon sah, erblickte ich einen Gefühlsturm in seinen sonst so leeren, schwarzen Augen. Ich konnte ihm ansehen, dass er etwas sagen wollte. Wie ihm ein Name auf der Zunge lag. Doch da ich ihn, wie auch alle anderen, erstarren lassen habe, konnte er bloß seine Augen bewegen. Und diese lagen auf mir. Er sah nicht so aus, als wollte er sie in nächster Zeit von mir abwenden. Deshalb tat ich es. Wandte mein Gesicht ab und sah zu meinem Bruder. Dieser sah sichtlich erleichtert aus.

Okay. Jetzt musste ich es bloß hinbekommen, dass nur meine Freunde aus ihrer Starre erlöst wurden. Das irre Funkeln in Bens Augen führte mir nur noch einmal vor Augen was geschehen würde, würde ich aus Versehen die Jäger mit erlösen. Das Messer an Desdemonas Kehle funkelte gefährlich.

Ich senkte meinen Kopf, schloss meine Augen. Spürte wie ich mich merklich anspannte. Versuchte nicht an die Zweifel in Liams Augen zu denken. Konzentrierte mich. Fokussierte meine Gedanken allein auf dieses eine Ziel.
Die Kraft durchströmte mich. Ich fühlte mich wieder wie am Anfang. Als ich zusammen mit Will im Westturm trainiert hatte.
Ich ließ los.

Plötzlich ertönte ein Dumpfes Geräusch. Jemand war zu Boden gegangen. Alarmiert öffnete ich meine Augen, hob meinen Kopf. Ich war bereit, sollte ich aus Versehen jemanden der Jäger von seiner Starre erlöst haben. Meine Augen wanderten aufmerksam über die Anwesenden. Erleichterung durchströmte mich. Die Jäger befanden sich alle in ihrer Starre. Und das Geräusch war von Desdemona gekommen. Die hatte sich nämlich zu Boden gegangen, als sie versuchte, Abstand zwischen das Messer und sich zu bekommen. Liam half ihr hoch.

Will und Nawin traten einen Schritt zurück. Nawin sah triumphierend zu den Jägern, während Will sich zu mir umdrehte und mit zügigen Schritten auf mich zuging. Ohne ein Wort zu sagen, packte er mich und zog mich wortlos in seine Arme. Ich erwiderte genauso tonlos seine Umarmung. Will war warm. Ein leichter Schweißfilm zog sich über seine Stirn. Er schien das nicht einmal zu bemerken.

"Hey, geh beiseite!", ertönte auf einmal Desdemonas genervte Stimme. Sie packte Will und zog ihn von mir weg. Will strafte sie mit einem bösen Blick, doch Desdemona ignorierte ihn. "Das hast du gut hinbekommen, Mika!", lobte sie mich nun grinsend und umarmte mich. "Mensch, ich dachte jeden Moment, ich würde sterben!" Stirnrunzelnd löste sie sich von mir und betrachtete mich eingehend. "Wieso hast du nicht früher eingegriffen? Wir hätten das so viel schneller erledigen können!", kritisierte sie mich nun. Meine Laune sank tief hinab. Ich wusste selbst, dass ich viel früher hätte eingreifen müssen. Doch konnte ich es Desdemona verübeln, dass sie mich nun darauf ansprach? Hätte ich früher eingegriffen, hätte niemand sterben müssen.

Desdemona, die mir wohl ansah, wie niedergeschlagen ich war, wank ab. "Ach, weißt du? Ist doch auch egal. Besser spät als nie." Für den Moment eines Wimpernschlages huschte ihr Blick zu Damon. Aber ich hätte es mir genau so gut auch einbilden können. "Ich glaubt, ich weiß, weshalb du gewartet hast." Ihr Grinsen kehrte zurück auf ihre Lippen, während sie mich ansah. "Du hast genau wie Theodor auf den 'richtigen Moment' gewartet." Sie zwinkerte mir zu, woraufhin ich sie empört von mir stieß. Desdemona lachte nur. Das brachte mich leicht zum lächeln.

Auf einmal erschien Liam neben Desdemona. "Gut.", sagte er. "Das wäre also geschafft." Er sah fragend in die Runde. Mittlerweile waren jetzt auch die anderen bei uns. "Aber was machen wir jetzt mit denen? Wir können sie doch wohl kaum mit ins Internat bringen. Dann hätten wir sie ja dorthin gebracht, wo sie von Anfang an hin wollten." Liam zog nachdenklich seine Augenbrauen zusammen. "Und dann wäre da noch Cassandra Darkstone ..." Er ließ seinen Gedanken unausgesprochen. Allerdings wusste jeder worauf er hinaus wollte. Desdemona verzog ihr Gesicht bei dem Gedanken, das alles ihrer Tante erklären zu müssen.
"Die Jäger können wir einfach in den Zellen im Kerker einsperren.", sagte sie. "Das ist kein Problem. Damals wurden oft Elementary dort eingesperrt. Da entkommt keiner." Sie schob sich eine dunkle Haarsträhne aus der Stirn. "Es wird glaube ich eher ein Problem, meine Tante dazu zu bringen, die Jäger in ihrem Schloss einzusperren. Außerdem müssten wir ihr noch erklären, wie es überhaupt dazu gekommen ist, dass wir Jäger einsperren." Desdemona sah ganz und gar nicht erfreut aus.
Liam seufzte. "Dann lasst uns alle schon mal darüber nachdenken, was wir ihr erzählen wollen.", meinte er trocken. Niemand sprach. Alle sahen nachdenklich aus. Bis Theodor auf einmal mit seinen Schultern zuckte. "Ist es nicht vollkommen egal was wir Lady Darkstone erzählen? Es kommt doch sowieso am Ende auf das selbe aus. Es sei denn, ihr habt irgendwelche grandiosen Ideen, in denen wir uns weder aus dem Internat herausschleichen, noch mit den Jägern kämpfen." Er breitete seine Arme aus und trat zwei Schritte zurück. "Oder sieht das hier nicht nach all dem aus? Ich meine, hey, jeder im Internat muss bereits gemerkt haben, dass etwas nicht stimmt!", sagte Theodor und sah jeden einzelnen von uns prüfend an. "Jeder muss diesen Krach hier draußen gehört haben. Bestimmt sind ein paar, die von Lady Darkstone geschickt wurden schon auf den Weg hier her um nachzusehen was los ist. Wenn nicht sogar Lady Darkstone selbst!" Wir schwiegen. Theodor hatte recht. Was wollten wir uns denn jetzt für eine Lügengeschichte ausdenken? Die Wahrheit würde sowieso herauskommen. Da konnten wir es auch sofort aus unserer Sichtweise erzählen. Somit musste sich niemand etwas zusammenreinem und wir mussten uns nicht immer und immer wieder rechtfertigen und etwas korrigieren.

Desdemona stöhnte und sah zu der Verwüstung, die hier angerichtet worden war. "Ja, ja. Okay.", brummte sie. "Also. Bringen wir die Jäger jetzt zum Internat oder warten wir, bis man uns hier findet?" Demotiviert verschränkte sie ihre Arme vor ihrer Brust.
"Ich schlage vor, wir bringen die Jäger selbst vorbei.", meinte Nawin und Desdemona schnaubte genervt. "Dich hat keiner gefragt!", giftete sie und noch bevor sie und Nawin in einem Streit endeten, ging Ariadne dazwischen. "Regelt das später!", zischte sie wütend. "Dafür habt ihr später noch genug Zeit! Und jetzt: Reißt euch zusammen!"

Ariadne wandte sich Will und mir zu. "Ihr seht zu, dass die Jäger zum Internat kommen.", bestimmte sie und zu Nawin sagte sie: "Du auch, wenn nötig." Mit diesen Worten schritt sie voraus.
"Die muss noch einmal an ihrer Freundlichkeit arbeiten.", kommentierte Desdemona, packte Liam und Theodor am Arm und zog die beiden hinter sich her. "Dann mal auf in den Kampf!"

Will wandte sich Nawin und mir zu. "Gut. Ihr habt sie gehört. Ich würde sagen, Mika und ich nehmen jeder ein paar Jäger und du, Nawin, passt auf, dass sich keiner aus der Starre löst oder zurück bleibt." Nawin nickte. Ohne weitere Worte begannen Ben und der andere Jäger zu schweben. Sie wirkten wie lebensechte Statuen. Will nickte mir kurz zu, ehe er den anderen auch schon hinterher ging. Die erstarrten Jäger schwebten ihm ein paar Zentimeter über dem Boden hinterher.

Ich sah zu den Jägern, die übrig geblieben waren. Damon und ein Jäger, dessen Namen ich nicht kannte. Na ganz toll.
"Alles gut?", fragte mich Nawin, als er meinen Gesichtsausdruck sah.
"Ja, ja. Alles gut.", sagte ich und winkte ab, doch innerlich sträubte ich mich. Weshalb musste ich mich darum kümmern, dass Damon zum Internat kam? Egal. Ich konnte es jetzt nicht mehr ändern. "Pass auf, okay?", sagte ich und bemühte mich, meine Stimme fest klingen zu lassen.
"Natürlich.", erwiderte Nawin und schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln. Er interpretierte das wohl ein wenig falsch, aber im Moment hatte ich andere Probleme. Ich widmete mich den beiden Jägern. Noch immer lag Damons Blick auf mir. In mir stieg der Verdacht auf, dass er die ganze Zeit über seinen Blick nicht einmal von mir genommen hatte.
Mit Leichtigkeit ließ ich die beiden wenige Zentimeter über den Boden schweben und wandte mich zum Gehen. Will und die anderen waren noch nicht weit entfernt. Eigentlich hätte er auf mich warten können.
"Gehen wir.", sagte Nawin und gemeinsam ließen wir den Ort zurück, an dem vor noch nicht allzu langer Zeit zwei Jägerinnen ihr Leben verloren hatten.

ObscuraWhere stories live. Discover now