Epilog

8.1K 527 89
                                    

Drei Monate waren mittlerweile vergangen, als ich nervös vor der weißen Haustür stand. Ich befand mich in einer Kleinstadt, im nord-osten Englands. Auf meinem Weg hierher hatte ich festgestellt, dass ich noch immer dazu in der Lage war, andere zu manipulieren. Darüber war ich ganz froh, denn sonst hätte mich der grimmig dreinblickende alte Mann vermutlich niemals in sein Auto steigen lassen.

Zögerlich betrachtete ich die schwarze Klingel, über der ein silbernes Schild mit der Aufschrift "Mortimer". Sollte ich das hier wirklich tun? Schließlich war es damals ziemlich deutlich gewesen, dass ich hier auf keinen Fall sein sollte.

Das Beste wäre wohl gewesen, zurück nach Hause zu gehen und mich in Hannes alte Decke einzuwickeln, während ich die Nachbarn weiterhin in den Glauben ließ, dass ich ein ganz normales Mädchen war.

Seit etwa zwei Monaten lebte ich in dem alten Haus von Hanne. Will hatte meine Entscheidung zwar überhaupt nicht gefallen, doch er war weitaus verständnisvoller als unser Vater. Der war seit dem Tod von Rhea wie ausgewechselt. Er wollte ständig alleine sein, war aufbrausend und gar nicht mehr er selbst. Dennoch war er alles andere, als einverstanden, dass ich zurück zu meinem ehemaligen Zuhause wollte.

Doch ich brauchte diesen Abstand einfach. Abstand von alle dem. Abstand von meiner Familie, von der Welt der Elementary. Ich brauchte meine Ruhe. Musste erst einmal selbst versuchen, mit all dem was geschehen war, klar zu kommen. Und ich musste mich erst einmal selbst finden. Wer wollte ich sein? Und wer war ich auf gar keinen Fall?

Seufzend nahm ich meinen Blick von der Klingel und betrachtete den Neubau, der so gar nicht in dieses eher alte Städtchen passen wollte. Desdemona würde mir für das, was ich gerade tat - oder tuen wollte - vermutlich in den Hintern treten. Doch ich hatte sie seit fast drei Monaten nicht mehr gesehen. Die Leitung und Verwaltung des Darkstone Castles nahm sie viel zu sehr ein. Sie musste erst einmal selbst lernen, klar zu kommen. Und da sie schließlich die letzte Darkstone Erbin war, lag es in ihrer Hand zu entscheiden, war nun mit dem Internat geschehen sollte. Obwohl sie von Anfang an gewusst hatte, wie sehr es sie überfordern würde, hatte sie sich relativ schnell dafür entschieden, dass Darkstone Castle zu übernehmen. Nicht nur das. Es blieb sogar weiterhin ein Internat. Es sollte weiterhin eine Auffangstation für andersartige Elementary und Obscura sein, die im Darkstone Castle ein neues Zuhause finden konnten. Und Desdemona selbst würde dort nicht mehr als Schülerin leben, sondern als Direktorin. Jedoch bevorzugte sie den Begriff "Leiterin".

Traurig dachte ich an Liam und Nawin. Beide waren momentan nicht in der Lage, Desdemona mit ihrer neuen Aufgabe zu helfen. Liam lag nach wie vor in einem Krankenhaus im Koma. Es war weiterhin unklar, wann er wieder aufwachen würde. Er würde wohl ziemlich große Augen machen, wenn er sah, dass Desdemona das Internat nun leitete.
Ob Desdemona und Liam wohl jemals zueinander finden würden? Ich wusste es wirklich nicht. Zumal beide zu stolz waren, um zuzugeben, dass sie den jeweils anderen mittlerweile mochten. Außerdem war Desdemona viel zu sehr damit beschäftigt, ihr Temperament zu zügeln und erwachsen zu werden.

Nawin hatte sich bei keinem von uns gemeldet, seit er seinen Bruder wortlos begraben hatte und verschwunden war. Aber Will sagte, dass er sich in dem Haus seiner verstorbenen Eltern zurück gezogen hatte. Nawin war laut Will ziemlich verbittert und bevorzugte es, alleine zu sein. Ob er jemals wieder zurückkehren würde? Desdemona würde sich auf jeden Fall freuen, doch auch sie hatte es als besser befunden, Nawin in Ruhe trauern zu lassen. Vielleicht würde er eines Tages wieder kommen. Doch er würde ein anderer sein.
Jedoch glaubte ich nicht daran, dass er jemals zurück kommen würde.

Genau wie ich hatte Ariadne das Darkstone Internat verlassen. Sie war ebenfalls mit dem Rest ihrer Familie nach Hause gegangen, doch anders als ich, war sie dort geblieben. Ich hatte von ihr nichts mehr gehört. Doch es wunderte mich auch nicht. Schließlich waren wir keine Freunde gewesen.

Theodor war wohl der Einzige, der weiterlebte, als sei alles normal. Als sei nichts geschehen. Nachdem er im Kampf gegen die Jäger seine unglaubliche Macht präsentiert und unzählige Jäger geröstet hatte, war er ziemlich zufrieden mit sich und seinem Leben gewesen. Ohne ein Wort zu sagen, war er nach dem Kampf zurück in sein Zimmer gegangen. Er hatte niemanden verloren. Sein Leben schien sich nicht großartig verändert zu haben und der Kampf mit den Jägern war lediglich eine Abwechslung zu seinem Alltag gewesen.

Scheiße! Wieso verdammt traute ich mich nicht, diese winzige Klingel zu drücken? Selbst wenn mein Versuch schlecht ausgehen würde, wäre das noch okay. Es wäre schließlich kein Weltuntergang. Ich ärgerte mich über mich selbst. Anders als ich hätte Damon das durchgezogen, was er sich in den Kopf gesetzt hätte. Wie das mit der neuen Generation von Jägern. Mit denen war er sogar ziemlich erfolgreich. Er hatte schon viele Freiwillige gefunden, die bereit waren, ihm zu helfen. Überraschender Weise waren darunter auch einige Obscura. Es gefiel mir, was er tat. Damon trug wirklich dazu bei, dass die Welt der Elementary und Obscura sich besserte. Jeder Außenstehende hatte mittlerweile bemerkt, dass die Jäger sich verändert hatten. Klar, sie wurden noch immer ein wenig gefürchtet und ihnen wurde misstraut, dennoch betrachteten die meisten diese Veränderung mit positiven Erstaunen.

Von Damon hatte ich vor ein paar Tagen überraschender Weise einen Brief in meinem Briefkasten gefunden. In dem hatte er mich über seine Fortschritte informiert, damit ich mir ein Bild von dem machen konnte, was gerade bei den Jägern vorging. Außerdem hatte er mir damit wohl zeigen wollen, dass das, was passiert war, die ganze Verfolgung, der Tod, nie wieder vorkommen würde. Zumindest nicht von Seiten der neuen Jäger. Sie waren keine Bedrohung. Und ich bewunderte, dass Damon das wirklich geschafft hatte. Dass es Elementary und Obscura gab, die ihm wirklich vertrauten. Sich darauf einließen und halfen, seine Idee in die Wirklichkeit umzusetzen.

Und wenn Damon so etwas Großes vollbringen konnte, dann konnte ich das hier auf jeden Fall. Ich atmete noch einmal tief durch. Entschlossen, aber dennoch nervös wandte ich mich erneut zu der von Pflanzen gesäumten Haustür. Ich strammte meine Schultern. Ironischer Weise kam ich mir vor, als würde ich gleich einen Kampf bestreiten. Langsam streckte ich meine Hand nach der Klingel aus. Zu langsam. Von meinem Zögern genervt, ließ ich meine Hand nun gegen den Klingelknopf sausen. Ein klatschendes Geräusch ertönte, fast zeitgleich wie die Melodie der Klingel. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

Ich trat einen Schritt zurück und beobachtete angespannt die Haustür. Natürlich konnte ich mich nicht davon abhalten, zu lauschen. Drinnen wurde eine Tür geöffnet. Schritte ertönten. Mit jedem Schritt, die diese gesichtslose Person machte, wurde ich nervöser. Aber ich blieb stehen. Ich musste. Wenigstens einmal würde ich mich meinen Problemen stellen. Vielleicht war das hier der Anfang. Es kam nur darauf an, was ich daraus machte.

Plötzlich ertönte ein Poltern. Jemand rannte eine Treppe herunter. "Ich gehe schon!", rief eine bekannte Stimme. Alles in mir bestand darauf, wegzugehen und es einfach sein zu lassen. Zurück zu gehen und meine Komfortzone nie wieder zu verlassen. Doch ich blieb.

Drei.
Zwei.
Eins.
Die Tür wurde aufgerissen. Ein breit grinsender Finley stand im Türrahmen. Er hatte ganz klar jemand anderen erwartet. Als er mich sah, war sein Grinsen wie weggewischt. Stirnrunzelnd betrachtete er mich. "Wer bist du denn?"
Ich konnte nicht glauben, dass ich das gerade wirklich tat. Und dass ich tatsächlich in meiner richtigen Gestalt erschienen war. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich meine Hände zu Fäusten geballt hatte. Sofort löste ich sie und versuchte mich zu entspannen. Dann nahm ich all meinen Mut zusammen. "Hallo, Finley.", sagte ich erstaunlich ruhig. "Ich bin's. Mika."

ObscuraWhere stories live. Discover now