Kapitel 55 - Ein neuer Schüler

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Es hatte tatsächlich gereicht, Will ein Bild des Schlosses und der Umgebung über die Gedanken zu übermitteln. Wir befanden uns auf dem Hof vor der großen Eingangstür des großen Schlosses. Ich beneidete Will. Er konnte sich aussuchen wann er wohin wollte. Als ich plötzlich verschwunden war, hatte ich überhaupt keine Ahnung gehabt, was da gerade geschah.
"Ich will das auch können ...", brummte Desdemona. "Ich müsste die Ferien über dann nicht hier bleiben. Dann könnte ich ohne Flugtickets oder so reisen. Für einen Tag oder mehrere." Ihr Blick verdüsterte sich. Sie schien an irgendein Ereignis aus der Vergangenheit zu denken. "Dann wäre ich weg von ihr." Irgendetwas sagte mir, dass sie wahrscheinlich an ihre Tante Cassandra Darkstone dachte. Mittlerweile wusste ich, dass Desdemonas Hass auf ihre Tante auf Grund irgendeines Verrates zurück zu führen war. Doch mehr wusste ich nicht. Hatte ihre Tante Desdemonas Familie an die Jäger verraten? Aber weshalb sollte Cassandra Darkstone das tun?
Will sagte daraufhin nichts, sondern betrachtete interessiert das dunkle Schloss. Desdemona strich sich eine Strähne aus ihrem Gesicht. "Gut.", wechselte sie das Thema. "Gehen wir zum Büro." Sie lief voran.

Ihre Schritte waren groß und zügig. Desdemona schien es schnell hinter sich bringen zu wollen und ihrer Tante nicht allzu lange gegenüber zu stehen. Will sah fragend zu mir. "Was hat sie denn auf einmal?", fragte er mich flüsternd. Hatte er das denn nicht mitbekommen? Mit hochgehobenen Augenbrauen sah ich meinen Bruder an. "Hast du nicht ihren Namen mitbekommen? Dad wusste sofort, wer sie ist.", sagte ich, doch Will zuckte nur mit seinen Schultern. "Keine Ahnung.", sagte er. "Ich lese keine Zeitung und schaue keine Nachrichten." Nun ja. Das mit Desdemona war wohl auch schon einige Jahre her. Doch plötzlich machte mich etwas stutzig. "Warte mal." Ich dachte nach. "Es gibt eine Zeitung und ein Fernsehprogramm für Elementary?"
Will sah mich ungläubig an. "Du wusstest das nicht?" Jetzt lachte er. Ich verschränkte meine Arme vor meiner Brust und sah Will tadelnd an. "Falls du es vergessen hast, ich bin noch recht neu bei den Elementary. Ich bin anders als du ohne das Wissen aufgewachsen."
"Ja, ja.", meinte Will mit einer entschuldigenden Geste. "Das habe ich nicht vergessen. Aber ja, es gibt eine Zeitung nur für Elementary. Sogar mehrere davon. Und eigentlich kann jeder Fernseher, Laptop, was auch immer den Elementary Sender empfangen. Man muss nur wissen, wie man ihn bekommt." Neugierig sah ich ihn an. Wartete darauf, dass er mir mehr Informationen gab. Doch Will schien zu faul zum Erklären zu sein. Er sagte bloß noch, dass er mir das irgendwann mal zeigen würde. Erst einmal gab ich mich damit zufrieden.
"Kommt ihr jetzt endlich?", rief Desdemona uns zu. Sie stand an der bereits geöffneten Tür.
Schnell wandelte ich noch mein Aussehen, als mir auffiel, dass ich noch immer wie ich aussah. Will und ich eilten zu ihr, bevor sie noch ungeduldiger wurde. Als wir eintraten, fiel hinter uns die Tür ins Schloss. "Los. Kommt.", sagte Desdemona und lief erneut voran. Ich beobachtete Will, wie er die Eingangshalle des Schlosses musterte und dann wieder mich. "Das ist ungewohnt, wenn du so anders aussiehst.", stellte er fest.
Ich zuckte nur mit meinen Schultern. "Ich muss es tun. Würde ich es nicht tun, wäre ich wohl kaum hier." Will stimmte mit einem kurzen Nicken zu und versank in seinen Gedanken.
Desdemona führte uns zu dem Büro der Direktorin und stieß die Tür ohne zu klopfen auf. Cassandra Darkstone, die bis vorhin noch ruhig in ihren Sessel hinter dem Schreibtisch gesessen hatte und irgendwelche Papiere geordnet hatte, schreckte auf. Als sie ihre Nichte erblickte schlich sich so etwas wie Trauer und Reue in ihre Augen. Desdemona sah ihre Tante nicht einmal an. Mit einem unterkühlten Blick musterte sie ihr Büro. "Mikas Bruder ist hier.", informierte sie ihre Tante kurz und trat in den Schatten. Will und ich traten vor. Erst jetzt schien die Direktorin uns zu bemerken. "Ah, guten Tag Mika. Ich habe bereits von eurer Ankunft heute erfahren, aber ich wusste nicht, dass ihr wieder verschwunden seid.", sagte sie und legte ihre Papiere beiseite. Dann musterte sie Will. "Und du bist also Will Lunar-Eclipse." Will sagte nichts dazu, dass Cassandra Darkstone wusste wer ich war. Lady Darkstones Blick fiel auf die Koffer, die Will und ich in unseren Händen hielten. "Ich nehme an, du möchtest hier zur Schule gehen." Die Lady lächelte. Will nickte. "Ja, das würde ich wirklich gerne.", sagte er. "Bis vor kurzem bin ich noch auf das offizielle Elementary Internat gegangen."
Die Lady nickte lächelnd. "Du solltest wissen, dass hier einige Dinge anders laufen, Will.", begann sie meinen Bruder aufzuklären. "Hier wirst du keine Elementary der bekannten vier Elemente finden. Außerdem - wie alt bist du? 19?" Will nickte. "Anders als in dem Internat, auf dem du vorher warst, werden die Schüler hier sechs Jahre unterrichtet. Du wirst hier in den vierten Jahrgang kommen. G4. Auf der offiziellen Schule wärst du jetzt oder fast fertig, nicht wahr?" Erneut nickte Will. Er wirkte ein wenig Überrascht. Aber diese Information war ihm ebenso neu wie mir. Lady Darkstone kramte in ihren Unterlagen und zog den Zettel hervor, den ich bei meiner Ankunft bereits ausgefüllt hatte. Sie übergab Will den Zettel und einen Stift, was Will beides nahm und er begann sich den Zettel durch zu lesen. Anschließend legte er das Papier auf den Schreibtisch und begann es auszufüllen. Ich spähte ihm über die Schulter und wartete darauf, dass er sein Geburtsdatum aufschrieb. Er war mein Bruder und doch hatte ich überhaupt keine Ahnung, wann er Geburtstag hatte. 14. Oktober 1997. Ich hob meine Augenbrauen. Ich hatte einen Tag vor ihm Geburtstag. Nun ja und zwei Jahre später. Anders als ich schrieb Will die richtigen Nachnamen unserer Eltern auf das Papier und innerhalb kürzester Zeit hatte er alles ausgefüllt und gab den Zettel an die Direktorin zurück. Diese überflog kurz all seine Angaben, nickte und legte für Will eine eigene Akte an. Kurz darauf wandte sie sich uns wieder zu. "Niemand darf wissen, dass ihr beide verwandt seid, habe ich recht?" Will und ich nickten synchron. "Gut.", fuhr Cassandra Darkstone fort. "Will, ich werde dir dein Zimmer zeigen. Es liegt nicht allzu weit von dem deiner Schwester entfernt. Wie Mika wirst auch du einen Mitbewohner haben. Aber ihr werdet euch schon verstehen." Sie und Will verließen das Büro. Desdemona und ich sahen uns an. "Sie scheint ja gut gelaunt zu sein.", sagte ich.
Desdemona schnaubte. "Sie hat einen neuen Schüler. Was denkst du denn?" Ich zuckte mit meinen Schultern. "Sollen wir die Glacials suchen?", schlug Desdemona vor, doch ich schüttelte meinen Kopf. "Lass ihnen etwas mehr Zeit für sich. Sie haben sich Jahre nicht gesehen."
"Okay.", willigte Desdemona ein. "Warten wir in unserem Zimmer darauf, dass dein Bruder uns erzählt, wie er es hier findet." Sie grinste. "Vielleicht hat er ja so viel Glück mit seinem Mitbewohner wie du!"
Ich verdrehte lachend meine Augen. "Am Anfang habe ich es nicht gerade Glück genannt!" So überhaupt nicht. Ich habe sie nicht einmal gemocht. Sie war mir mit ihren Stimmungswechseln auf die Nerven gegangen. Ich konnte nur hoffen, dass Will einen guten Mitbewohner bekam und dass sie sich verstanden.

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