Kapitel 53 - Wiedersehen

7.9K 685 36
                                    

Innerlich bereitete ich mich auf meinen Untergang vor. Desdemona neben mir spannte sich an. Bereit, meinem Bruder in den Hintern zu treten. Wahrscheinlich sollte sie das lieber lassen, wenn sie nicht mit mir untergehen wollte. Die Szene von Will im Schulgang spielte sich vor meinen Augen ab. Wie düster er dort gewirkt hatte. Und es war alles meine Schuld. Die Schritte im Flur kamen näher. Ich wurde aufgeregter.
Die erste, die durch die Wohnzimmertür trat, war meine Mutter. Als sie mich entdeckte, blieb sie wie angewurzelt stehen, sodass Cecile beinahe in sie hinein lief. Diese wollte sich an meiner Mutter vorbei schieben, doch auch sie entdeckte mich und blieb stehen.
"Mum, Grandma, was habt ihr beide denn?", vernahm ich Wills genervte Stimme.
"Lass die beiden doch.", hörte ich meinen Großvater sagen. "Wenn sie da stehen wollen, dann wollen sie da stehen." Wow. Großvaters Weisheit. Wäre das hier eine andere Situation, würde ich vermutlich lachen. Aber momentan war mir alles andere als zum Lachen zu Mute.
Anscheinend wollte Will nicht warten, bis sich die beiden wieder in Bewegung setzten und quetschte sich an ihnen beiden vorbei. Nun sah ich meinen großen Bruder. Schwarzes Haar, sturmgraue Augen.
"Ich verstehe nicht, was ihr auf einmal habt. Es ist ja nicht so, dass- ...", Will verstummte. Er starrte mich an und sagte kein Wort mehr. Seine grauen Augen lagen auf mir. Er schien Desdemona nicht einmal zu bemerken, die damit beschäftigt war, ihn von oben bis unten zu mustern. Würde Liam das sehen, würde es ihm ganz und gar nicht gefallen. Will sagte noch immer nichts. Und ich hasste es, nicht zu wissen, was er dachte. Er zeigte keine Reaktion. Selbst sein Gesicht schien eine Maske zu sein. Und diese sagte überhaupt nichts aus. Ich würde das nicht mehr lange aushalten. Nicht, wenn er nicht bald mal reagierte. Außerdem schienen alle genau darauf zu warten. "Mika.", sagte Will auf einmal leise. So leise, dass ich ihn beinahe nicht gehört hätte. Desdemona gab mir einen kleinen Schubs und ich stand von dem Sofa auf.
"Will.", flüsterte ich. "Es tut mir leid." Langsam setzte sich mein Bruder in Bewegung und kam auf mich zu. Vorsichtig, als wollte er mich nicht verschrecken. Und ganz plötzlich stand er vor mir. Noch ehe ich irgendetwas sagen konnte, wurde ich an ihn gepresst und seine Arme schlangen sich um mich.
"Uff!", machte ich und fühlte mich ein wenig eingeengt. Aber worüber sollte ich mich schon beklagen? Will schien nicht wütend zu sein. Also erwiderte ich seine Umarmung und blieb still. "Wo warst du?", hörte ich Will in mein Ohr murmeln. "Wieso bist du gegangen?" Eine Ewigkeit später ließ er mich los und wurde auch schon sofort von Mum abgelöst, die "Mach so etwas nie wieder!" murmelte. Und als sie schließlich auch fertig war, kam Cecile auch schon angeflogen, die mich erdrückte.
"Cecile, du erdrückst das arme Kind!", grummelte Grandpa Arthur, der wieder hinter seiner Zeitung saß, doch ich sah ihn glücklich lächeln. Und ich glaubte, dass das bei ihm schon eine Seltenheit war. Grandma Cecile ließ mich los und sah mich strahlend an. "Du bist zurück!", sagte sie überglücklich.
"Na ja, es war wohl eher ein Zufall, dass wir hier gelandet sind.", zerstörte Desdemona den Moment. Sie hatte wirklich großes Talent für so etwas. Nie schien sie zu wissen, wann es der richtige Zeitpunkt war, etwas zu sagen. Und wenn doch, sagte sie das Falsche. Ich konnte innerlich nur meinen Kopf schütteln. Erst jetzt schienen die anderen zu bemerkten, dass noch eine weitere Person hier im Raum war. Sie sahen Desdemona fragend an.
"Und wer bist du?", fragte Will, der sie misstrauisch beäugte. Desdemona stand auf und reichte Will die Hand. "Desdemona MacKenzie. Mikas beste Freundin." Will reichte ihr eher automatisch die Hand, als das er es bemerkte. Desdemona schüttelte sie grinsend und wandte sich danach den anderen zu. "Ich glaube, ihr habt alle mitbekommen, wer ich bin." Oh ja. Das hatten sie. Und sie sahen Desdemona alle fragend an. Sie schienen nicht zu wissen, was sie von ihr halten sollten.
"Rhea Lunar-Eclipse.", stellte sich meine Mutter vor und reichte Desdemona ihre Hand. "Wills und Mikas Mutter."
"Cecile Lunar.", sagte Cecile und schüttelte freudig Desdemonas Hand. "Ich bin die Großmutter von Will und Mika."
Von Arthur dagegen kam hinter der Zeitung nur ein kurzes: "Arthur Lunar. Freut mich." Desdemona sah mich grinsend an. "Was willst du von mir hören?", fragte ich sie. "Dass du recht hattest? Schön, du hattest recht!" Sie setzte sich wieder hin und nahm einen Schluck von ihrem Tee, während ich noch immer ihren zufriedenen Blick auf mir spürte.
"Also, was meintest du damit, dass es Zufall war, dass ihr hier gelandet seid?", fragte Cecile.
"Mika hat sich plötzlich in Luft aufgelöst.", sagte Desdemona schulterzuckend und nahm einen weiteren Schluck aus der Tasse, die sie anschließend wieder abstellte.
Meine Mutter runzelte ihre Stirn. "Und weshalb bist du dann auch hier?"
Auf Desdemonas Lippen erschien erneut ein Grinsen. "Ich habe mich an ihr festgehalten und wir sind beide hier gelandet.", erklärte sie. Meine Großmutter und meine Mutter sahen Desdemona verdattert an, während Will mich ansah. "War es das erste mal?", fragte er. Als Antwort nickte ich. "Wenn du das öfters machst, kannst du lernen, dir dein Ziel selbst auszusuchen.", erzählte er mir. Das hoffte ich. Ich fände es nicht so toll, mich immer in Luft aufzulösen und an einem Ort aufzutauchen, den ich nicht kannte. So gesehen hatte ich Glück gehabt, hier zu landen. Wenn ich wirklich Pech gehabt hätte, wäre ich im Elementary Internat aufgetaucht und ich glaubte nicht, dass die Elementary dort das so toll finden würden. "Ich kann dir helfen.", bot Will an. "Was sagst du?" Er sah mich erwartungsvoll an.
Ich lächelte. "Das fände ich super. Danke, Will.", sagte ich. Will grinste mich an. Doch plötzlich räusperte sich unser Vater und nun lagen alle Blicke auf ihm.
"Eric, was ist?", fragte unsere Mutter. "Ist etwas nicht in Ordnung?"
Unser Vater legte seine Tasse Tee ab und stand auf. "Es ist alles okay.", sagte er. "Aber vielleicht solltet ihr euch alle mal hinsetzten."
Misstrauisch stemmte unsere Mutter ihre Hände in die Hüfte. "Eric, was ich los?", wollte sie alarmiert wissen. Sie dachte gar nicht erst daran, sich hinzusetzten. Grandma Cecile dagegen befolgte Dads Ratschlag und machte es sich in dem Sessel gemütlich, den er gerade noch besetzt hatte. Ich spürte Desdemonas Hand, die mich wieder auf das Sofa ziehen wollte. Ich griff noch schnell nach Wills Hand und zog ihn mit runter auf das Sofa. Fragend sah mich mein Bruder an. "Hat es etwas mit dir zutun?", fragte er besorgt.
"Ja, hat es.", sagte ich leise und hoffte nur noch, dass es ganz schnell wieder vorbei war. Denn jetzt kam der wirklich ungemütliche Teil. Ich hoffte nur, dass die anderen diese Nachricht genauso gut aufnehmen würden, wie mein Vater.

ObscuraWhere stories live. Discover now