Kapitel 64 - Sechs kleine Schafe

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Tiefes Schweigen erfüllte die gespenstisch leere Halle. Theodor warf Liam einen unsicheren Blick zu und Liam klopfte Theodor einmal aufmunternd auf die Schulter.
Desdemona holte einmal tief Luft. "Okay. Lasst uns den Jägern einmal richtig in den Arsch treten!", sagte Desdemona und nun erschien auch wieder ein Grinsen auf ihren Lippen. Ihr Blick schweifte kurz zu Ariadne. "Sorry." Desdemonas Grinsen wurde noch eine Spur breiter. Ariadne verdrehte bloß ihre Augen und machte eine wegwerfende Handbewegung.
Liam lachte, weswegen Ariadne ihn zweifelnd ansah. "Glaub mir, sie meint die Entschuldigung nicht ernst.", sagte er grinsend, woraufhin Ariadnes Miene ein wenig düsterer wurde. Jetzt lachte auch Desdemona.
"Seid leise!", zischte ich Liam und Desdemona zu. "Wollt ihr, dass wir erwischt werden?" Außerdem sollten sie aufhören auf Ariadne herumzuhacken. Sonst verschwendeten sie ihre gesamte Kraft an sie, anstatt die Jäger.
Nun standen wir alle hier und starrten auf die Tür. Selbst Ariadne blieb stehen. Zögerte sie? Oder wollte sie uns einfach nur den Vortritt überlassen? Theodor war der, der den ersten Schritt machte. Tatsächlich hätte ich das eher von Liam oder Desdemona erwartet. Oder Ariadne, doch die hatte sich ja dazu entschieden, uns machen zu lassen.
Mit zügigen Schritten ging Theodor auf die Tür zu und riss sie auf. Er trat über die Schwelle, blieb stehen und drehte sich abwartend zu uns. Desdemona packte mich am Handgelenk und marschierte mit mir zu Theodor, als fürchtete sie, ich würde sonst nicht mitkommen. Oder vielleicht würde sie dann nicht mitkommen?
Kaum war Desdemona losgelaufen, setzte sich auch Liam in Bewegung. Blieb also nur noch Ariadne. Die setzte sofort eine gleichgültige Maske auf und konnte sich dann doch noch dazu herablassen uns zu folgen.
Gerade als sie die Tür hinter ihr schließen wollte, vernahm ich plötzlich schnelle Schritte, die immer näher kamen. "Schnell!", rief ich hektisch. "Lauft!" Als wäre das der Starschuss für einen Marathon, rasten wir alle los. Hinter uns wurde die Tür wieder aufgestoßen. "Schneller!", keuchte Desdemona und zwang sich dazu, noch schneller zu rennen. Wir hatten den Wald beinahe erreicht, als wir alle zeitgleich in unseren Bewegungen einfroren.
"Was zum ...?", murmelte Theodor und Ariadne seufzte nur. "Ghost Elementary.", informierte sie uns. "Das ist doch offensichtlich!" Ein ungutes Gefühl überkam mich. Wenn ich jetzt wetten müsste, wer dieser Ghost Elementary war, würde ich vermutlich richtig liegen. Ich schloss meine Augen und hoffte. Gleichzeitig versuchte ich mich wieder zu bewegen. Es war als hätte man um meinen Körper eine dicke Schicht Beton gegossen, in der ich nun fest steckte. Na ganz toll. Ich wollte meine ganze Kraft jetzt nicht dafür verschwenden mich zu befreien.
"Na, wen haben wir denn da?", ertönte eine bekannte Stimme. Mist. Ich hatte recht gehabt. Ich verkniff mir ein frustriertes Seufzen und suchte mit meinen Augen die Person, zu der die Stimme gehörte. Ruhige Schritte kamen immer näher. Irritiert stellte ich fest, dass es sich um zwei Personen handelte. Hatte er uns etwa verraten? Und woher konnte er überhaupt wissen, wann wir uns wo treffen wollten?
Die zweite Person, die ich als Nawin Klahan identifizierte, stellte sich vor Desdemona. "So. Jetzt können wir endlich mal in Ruhe reden. Jetzt kannst du dich nämlich nicht davor drücken, Desdemona!" Er klang ziemlich angepisst. "Es ist deine Schuld, dass uns dabei vier andere Personen zuhören müssen." Desdemona protestierte lautstark. Sie tobte regelrecht. Auch wenn das sehr merkwürdig aussah, da sie sich nicht einen Millimeter bewegen konnte. "ICH HABE JETZT WIRKLICH KEINE ZEIT, UM MIR DEINE BESCHISSENE ERKLÄRUNG ANZUHÖREN, KLAHAN!", brüllte Desdemona, die nun kurz vor dem Platzen war.
"Pst!", machte Ariadne daraufhin. "Wenn du so laut bist können wir die Jäger auch sofort darauf aufmerksam machen, dass sie gleich Besuch bekommen!" Verärgert durchbohrte Ariadnes Blick Desdemona, die zu schmollen anfing.
"WIE BITTE?!", donnerte Will brodelnd und erntete dafür zeitgleich vier "PSST!". Nawin starrte Desdemona entsetzt an. "Das habt ihr doch nicht wirklich vor, oder?" Desdemona erdolchte ihn mit ihren Blicken. Will wandte sich mir zu und marschierte lodernd in meine Richtung. Na ganz toll! Vor mir baute er sich groß auf und ich kam mir ihm gegenüber nur noch vor wie ein Zwerg. Angst kroch in mir hoch. Er war wütend. Mehr als nur wütend. Er war außer sich. "Das", er deutete anklagend auf den Wald. "nennst du deine verfluchte Angelegenheit?! Bist du von allen vernünftigen Gedanken verlassen? Ist dein Urteilsvermögen getrübt? Bist du dir überhaupt darüber im Klaren, was du da tun willst?! Alleine?! Ist es dir etwa nicht gefährlich genug vorgekommen, um mir davon zu erzählen?!"
"Sie ist doch gar nicht alleine ...", wisperte Desdemona kaum vernehmbar. Die Rede und Stimmung meines Bruder schien ihr wohl auch ein wenig Furcht einzuhauchen. Ein Glück, dass Will sie nicht hörte, sonst hätte er sie gleich mit runtergemacht.
"Hey, Will. Komm mal ein wenig runter.", versuchte Nawin meinen Bruder zu beschwichtigen. "Sie hat schon recht. Was gehen uns ihre Angelegenheiten an? Ihr seid nicht einmal verwandt." Damit hatte Nawin das Falscheste gesagt, das er überhaupt sagen konnte. Allerdings schien sich das auch Theodor zu fragen. Sein Blick war ein einziges Fragezeichen.
Will drehte sich nicht zu Nawin um. Er ließ mich nicht eine Sekunde aus den Augen. "Sie ist meine verdammte Schwester!", rief Will aus. Kurz darauf kapierte er, was er da gesagt hatte. Meine Augen weiteten sich. Genau wie die von Will. Zwar wussten es nur Theodor und Nawin nicht, aber das war schlimm genug.
"Was?", kam es von Nawin. Der starrte Will und mich an. Auch Theodor versuchte zu mir zu sehen, doch er stand zu weit vorne. Alarmiert drehte Will sich zu Nawin um. "Ähm ...", versuchte er sich da wieder herauszureden. "Ich meinte, sie ist wie eine Schwester für mich." Er lachte nervös und fuhr sich mit der Hand durch das dunkle Haar. Es war ein kläglicher Versuch. Aber das wusste er selbst. Nawin sah Will eindringlich an. "Verarsch mich nicht, Mann!", sagte er. Mein Bruder seufzte. Wir beide wussten, dass es zu spät war. Wir konnten uns da beide nicht mehr herausreden.
Also versuchte ich nun das Thema zu wechseln, obwohl ich wusste, dass das wohl unmöglich war und nur wie ein verzweifelter Versuch aussehen würde. "Woher wusstet ihr eigentlich wo wir wann hinwollten?" Will griff meinen kläglichen Versuch eines Themawechsels auf. "Du weißt schon. Ghost Elementary Kram. In fremde Gedanken eindringen." Er deutete auf Liam. "Ich wollte es erst bei dir versuchen, doch du hättest es sicher bemerkt."
Nawin kam entschlossen auf uns zu. "Nein! Hier wird jetzt nicht das Thema gewechselt! Ich will, dass du mir das erklärst, Will!" Will sah hilflos zu mir. Ich zuckte mit meinen Schultern.
"Das hast du dir selbst eingebrockt.", meinte ich. Fassungslos öffnete sich Wills Mund. "Wie bitte? Das geht dich genauso was an, wie mich!", eröffnete er mir.
"Hör mal! Es ist es jetzt deine oder meine Schuld? Schließlich ist es doch dir rausgerutscht!", rief ich.
Will warf seine Arme empört in die Luft. "Willst du mir etwa sagen, dass es meine Schuld ist?! Du bist unmöglich!", rief Will jetzt auch.
"Ich bin unmöglich? Du bist hier unmöglich!", sagte ich verärgert. "Wer ist denn auf die Idee gekommen, mir hinterher zu schnüffeln und laut herum zu schreien?"
Wild gestikulierend versuchte Will mir klar zu machen, dass er nur um meine Sicherheit besorgt war und es doch unmöglich von mir sei, ihm vorzuenthalten, dass wir alleine ( zu vier! ) die Jäger "überfallen" wollten. Die anderen folgten unserer Konversation ein wenig überfordert.
"Du bist nicht mein Vater!", sagte ich laut, als mir keine Argumente oder Ausreden mehr einfielen. Will hatte recht, Will hatte recht, Will hatte recht. Ja, ja, ja. Das war mir sehr wohl bewusst. Aber das würde ich ihm ganz sicher nicht sagen.
"Aber dem komme ich schon ganz nahe!", entgegnete Will. "Ich bin älter als du und männlich!"
Mit dieser Aussage brachte er mich dazu, ihn ungläubig anzustarren. "Ist das dein Ernst?", war das einzige, das mir einfiel.
"Verdammt! Könnte mich jetzt endlich mal jemand aufklären?", rief ein völlig überforderter Nawin dazwischen.

ObscuraWhere stories live. Discover now