Kapitel 46.2 - Zurück zum Darkstone Castle

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Reglos standen wir da, betrachteten still das alte Gemäuer vor uns. Ich lächelte leicht, als ich begriff, dass ich mich im Darkstone Castle wohler fühlte, als ich es je im offiziellen Elementary Internat gekonnt hätte. Ich habe hier sozusagen eine Zuhause gefunden. Doch auch hier würde ich nicht sicher sein. Und vermutlich würde ich alle in Gefahr bringen, würde ich weiterhin hier bleiben. Doch das Darkstone Castle war momentan der sicherste Ort, denn eigentlich dürfte ich nicht allzu lange an einem Ort bleiben, wenn ich nicht gefunden werden wollte. Schnell verdrängte ich diese Gedanken in die hintersten Ecken meines Kopfes. Ich wollte nicht daran denken.

Plötzlich legte sich ein Arm um mich. Neben mir entdeckte ich Desdemona, die genauso wie ich und alle anderen das Schloss ansah. "Eigentlich ist es ein beeindruckender Anblick, findest du nicht? Selbst wenn du es schon unzählige male gesehen hast, reißt es dich immer wieder in seinen Bann ..." Desdemona schien in ihren Gedanken weit entfernt zu sein, in einer anderen Welt, in einer anderen Zeit.

Ich vernahm, wie Liam Desdemona leise zustimmte. Seine Stimme klang benebelt, in seinen Augen glänzte die erdrückende Leere der Trauer. Was auch immer ihm geschehen war, es hatte seinen Narben hinterlassen.

Die Abendsonne tauchte das dunkle Schloss in rötliches Licht und warf lange Schatten auf den Boden. Doch die Schatten blieben nicht reglos dort, wo sie waren, nein. Es war, als würden sie wie Magnete von Liam angezogen werden. Dieser schien nicht einmal zu bemerkte, wie sich unzählige Schatten vor seinen Füßen ansammelten. Liam bemerkte nicht, dass sich vor ihm eine Armee angesammelt hatte. Eine Armee, über die er die volle Kontrolle hatte.

Ich sah Desdemonas Blick, der Neid, wie auch Staunen zeigte. Sie würde niemals eine so mächtige Schatten Elementary wie Liam werden, doch sie war stark genug. Eines Tages würde auch sie das sehen. Selbst wenn sie es jetzt noch nicht sah.

"Seid ihr so weit?" Graces Stimme klang beinahe heiser. Stumm nickten Dylan und Imogen. Grace blickte entschlossen zu uns. "Zeigt uns den Weg."

Liam war der Erste von uns, der sich in Bewegung setzte. Wir anderen folgten ihm. Der Boden unter unseren Füßen war eben. Nicht einmal der Hauch eines Windstoßes war zu spüren. Es schien totenstill. Bis plötzlich ein schrilles Kreischen hoch über unseren Köpfen die Stille zerriss.

Wir zuckten alle zusammen und blickten alarmiert nach oben, bereits, das, was auch immer da war anzugreifen würde es nötig sein.

Doch zu aller Überraschung rief Desdemona laut: "Hermes!" und ein Lächeln hatte sich auf ihren Lippen ausgebreitet. Sie streckte dem schwarzen Vogel ihren Arm entgegen, auf dem Hermes sich sofort niederließ. Liam, wie auch ich musterten den Raben misstrauisch. Hermes blickte aus seinen schwarzen Augen jeden in der Runde in das Gesicht. Er öffnete seinen Schnabel und stieß ein heiseres Krächzen aus.

Ich zog meine Augenbrauen stirnrunzelnd zusammen. Konnte es möglich sein, dass der Vogel wusste, was wir vorhatten? Ich wusste nicht, wie ich auf diesen Gedanken kam, er war einfach aufgetaucht wie ein U-Boot aus dem Wasser. Hermes sah mir länger als den anderen ins Gesicht. Seine schwarzen Vogelaugen bohrten sich in Meine. Aufmerksam schien er sich mein Gesicht einzuprägen. Oder konnte er gar hinter meine falsche Erscheinung blicken? Es war doch bloß ein normaler Rabe, oder? Ich schüttelte kaum merklich meinen Kopf. Wenn ich eines gelernt hatte, dann dass nichts unmöglich war. Selbst wenn das bedeutete, dass dieser Rabe hinter meine Maske blicken konnte.

Plötzlich krächzte er wieder auf und wandte sich von mir ab. Mit meinen Augen verfolgte ich jede Bewegung, die der Rabe tat. Und dann durchzuckte mich ein Gedanke, der mich erstarren ließ: Hermes war die Augen und Ohren von Cassandra Darkstone. Wenn er hinter meine Erscheinung sehen konnte und wusste, dass ich nicht die war, die ich vorgab zu sein, dann würde es mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auch Lady Darkstone schon von Anfang an gewusst haben, oder etwa nicht? Doch was wäre, wenn jemand anderes sich diesen Raben zu Nutzen machen konnte? Ein Jäger zum Beispiel. Dann wäre ich selbst hier nicht so sicher, falls ich hier denn je sicher gewesen war.

Sanft strich Desdemona über Hermes' Gefieder, flüsterte ihm still Dinge zu. Der Rabe sah Desdemona eine Weile an, dann breitete er seine Flügel mit einer beeindruckenden Flügelspanne aus und erhob sich krächzend in den Himmel.

"Was hast du ihm gesagt?", wollte Liam wissen, während er dem Raben nachsah, der in einem der geöffneten Turmfenster in dem Gemäuer verschwand.

Desdemona nahm ihren Blick nicht von dem Raben. Selbst nicht, als dieser bereits verschwunden war. "Er sucht Ariadne für uns.", sagte sie. "Er wird uns zu ihr führen." Sie schielte zu Liam. "Das was ich jetzt tue, könnte euch vielleicht erschrecken.", warnte sie uns und sie wandte sich mir zu. "Ich weiß, dass du wohl am besten damit klar kommen wirst, Lune." Sie brach kurz ab. In ihren Augen blitzte Vertrauen auf, während sie mich ansah. Wärme breitete sich in mir aus. Desdemona vertraute mir. "Pass bitte auf meinen Körper auf.", flüsterte sie, ehe sie ihre Augen schloss.

Liam riss entsetzt und ungläubig seine Augen auf, als Desdemonas Körper in sich zusammen sackte, ehe ich sie auffing. Ein ächzender Laut kam von ihm und ich bemerkte, wie auch die Drillinge scharf die Luft einsogen. An der Stelle wo sich Desdemonas Herz befand, stiegen auf einmal schwarze, nebelartige Schatten aus ihr heraus.

Liams Augen hatten sich geweitet. Wie zu Eis erstarrt, blickte er gebannt und doch entsetzt auf das Schauspielt. Immer mehr schattenartiger Nebel kam aus Desdemona und so plötzlich wie es begonnen hatte, schossen sie hinauf zum Turmfenster, wo zuvor Hermes verschwunden war.

Was tat Desdemona da? War das wie der Nebel oder die Schatten, die sie, wie auch ich beherrschten, um Schmerzen verursachen zu verursachen? Nein, sonst hätte sie uns nicht gewarnt. Das hier war etwas anderes.

"Ihr Bewusstsein befindet sich in den Schatten.", erklärte Liam leise. "Wenn diese Schatten Besitz von einem anderen Lebewesen ergreifen, ist sie in der Lage, dieses zu steuern und übernimmt vollkommen seinen Körper. Das hat sie wohl mit Hermes vor." Er verstummte, blickte auf Desdemonas leeren Körper in meinen Armen. "Es passiert nur sehr selten, dass ein Schatten Elementary die Fähigkeit erhält, sein Bewusstsein auf seine eigenen Schatten zu übertragen." So wie er das sagte, konnte ich darauf schließen, dass er dazu nicht in der Lage war.

Desdemona war keineswegs schwach. Ihre Fähigkeit konnte sie zu einem gefährlichen, nicht zu unterschätzenden Feind machen.

Und es erinnerte mich an meine eigenen Fähigkeiten. Auch ich konnte in das Bewusstsein anderer Lebewesen eindringen. Aber konnte ich auch meinen Körper verlassen, genauso wie sie? Ich wusste ehrlich gesagt nicht, ob ich es ausprobieren wollte. Was, wenn ich nicht mehr in meinen eigenen Körper fand? Außerdem hatte ich andere Möglichkeiten, Dinge zu sehen.

Wie lange hatte Desdemona diese Fähigkeiten nun schon vor allen anderen versteckt? Wusste davon überhaupt ihre Tante? Würden die Jäger von dieser Fähigkeit erfahren, würden sie noch intensiver hinter Desdemona her sein, als sie es ohnehin schon bei Schatten Elementary waren.

Ohne dass es einer von uns bemerkt hatte, war der Nebel aus Schatten zurückgekehrt und stürzten sich in Desdemonas Körper zurück. Beinahe zeitgleich riss diese ihre Augen auf.

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