Töten oder nicht töten, das ist hier die Frage

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          Anas Pferd brach an derselben Stelle aus dem Wald hervor, an der sie zuvor mit Mika'il verschwunden war. Vor ihr verwandelte sich Schnee zu Regen. Weiße Bindfäden verschleierten die Sicht auf die rollenden Hügel vor ihr und ließen sie das Tier zügeln und innehalten. Ungeduldig warf es den Kopf hoch, als Anas Blick über den Hof und die verkohlten Reste des Dorfs wanderten, ehe sie am Horizont die verschwindend kleine Gestalt des Weltenwandlers entdeckte.
Bitte. Bitte. Bitte. Sie wusste nicht einmal, wen sie anflehte.

Ein Experiment. Gezüchtet, um den Willen anderer zu erfüllen. Es klang wie die furchtbarste Art von Gefängnis, die sie sich vorstellen konnte.  

Sie hatte die Kapuze ihres Mantels hochgeschlagen, doch einzelne eisige Tropfen fanden immer noch ihren Weg runter auf ihre Haut.
Wo war er? Hinter ihr trommelten Tropfen am Boden liegende Blätter, als wolle der Wald sie zurückrufen.

Ana entließ ihren Atem in einer kleinen weißen Wolke und galoppierte wieder an. Sie musste ihn finden. Sie musste. Der Boden gab schmatzend unter den Hufen des Tier nach. Wind zerrte an Anas Kleidung, die sich langsam mit dem stetigen Nass vollsog.

Den Hang hinunter. Raus dem Schatten des Waldes. Der Sicherheit, die keine Sicherheit war. Nur so lange, wie sie tat wie geheißen. Ein Experiment, das nicht scheitern durfte. 
Durch das kleine Tal hindurch und den nächsten Hügel hoch.

Dann sah sie es. Obwohl die Landschaft um sie herum durch die Dunkelheit verschwand. Ein kleines Lager aus vielleicht acht Zelten, die sich dicht an die Rückseite des Hofes schmiegten, umringt von knapp hundert Soldaten in der grünen Kluft. 

Kälte klammerte sich an ihre Knochen. Das waren Kellens Männer. Ana verlangsamte den Galopp ihres Pferdes und parierte schließlich vollkommen durch. Wasser hing in ihren Wimpern und machte die Sicht schwer. Er hatte ihn erwischt. Sie wischte mit dem Handrücken über ihr nasses Gesicht. Er hatte sie alle erwischt. Ihr Magen fiel wie ein Stein. 

Da war eine Bewegung auf ihrer anderen Seite. Mika'il. Ihr Herz machte einen Satz. Er verschwand gerade hinter einer weiteren Hügelkuppel. Nein. Ana schnalzte, die Zügel fester gepackt. Sie drehte den Kopf zur Seite. Zwei Schatten. Beide blond.

Sie standen unter einem großen Baum nahe des Lagers. An den Stamm gedrängt, auf der Suche nach Schutz vor dem Wetter. Lucah und Salem waren immer noch bei Adriel. Genauso umringt. Genauso gefangen. 

Panik ließ Ana ruckartig herumfahren, doch da war keine dritte Figur. Gaby... 
Die Möglichkeiten, was seine Männer mit einer Weltenwandlerin gemacht haben könnte schwemmten über sie ein. Ihre Zähne klapperten aufeinander. Wie würde Adriel Kellen mit einer Weltenwandlerin von seiner Unschuld überzeugen?

Mika'il war inzwischen vollkommen verschwunden. Ihr Pferd tänzelte aufgebracht seitlich in seine Richtung, den Kopf in den Nacken werfend, bis Tropfen von seiner Mähne spritzten. Sie konnte ihn immer noch einholen. Er hatte versprochen, ihr zu helfen. Sie musste nur-...

In der linken Satteltasche lag er. Der kleine Dolch.
Du kannst sie nicht alle retten, hatte Mika'il gesagt. Ana biss die Zähne aufeinander und sah ihm nach. Aber das hier war ihre Schuld. Sie starrte Mika'il hinterher, als könne sie so eine Nachricht übertragen. Als könne sie ihn zwingen, sie zu hören. Dreh um. Bitte, dreh um. Du hast versprochen, mich mitzunehmen. Du hast es versprochen. Und ich kann meine Freunde nicht zurücklassen. Bitte, bitte, dreh um.

Wasser drang durch ihre Kleidung und ließ den Sattel knarzen. Herzschläge verstrichen. Laut und viel zu langsam. Als würde sich die Zeit ausdehnen, um ihr nur noch ein paar Sekunden länger Hoffnung zu geben. Ein paar Sekunden länger, in denen sie bereits die gelbe Küche ihres Zuhauses sah. 

The Demon Stone - Der Weltenwandler IWhere stories live. Discover now