♕ Raven - Prolog ♕

1.5K 105 11
                                    

Gähnend langte ich nach meinem tiefschwarzen Brokatumhang und legte ihn mir über die Schultern. Mein Nacken war völlig verspannt, mein Hals ausgetrocknet und meine Laune bereit zu kippen. Es war keine besonders gute Idee gewesen mich zum Lesen in die schmale Fensternische zurückzuziehen, in der es schrecklich zog, und dann auch noch einzuschlafen. Die langen, schwarzen Haare klebten mir kalt und klamm im Nacken und ich musste schon wieder niesen, diesmal heftiger. Besser ich besorgte mir schnell etwas Warmes zum Trinken.

Ich zog den schweren Umhang fester um mich, sodass nichts mehr von dem zitrusfarbenen Stoff darunter zu sehen war, und machte mich auf den Weg. Während ich durch das steinerne Labyrinth eilte, das die Rosenburg war, betete ich darum, mich nicht erneut zu verlaufen und eine Bedienstete nach dem Weg fragen zu müssen. Obwohl ich in einem Schloss weitaus größeren Umfangs aufgewachsen war, brachten mich diese engen Gänge mit ihrer schlechten Beleuchtung stets durcheinander. Die schwere Fichtentür auf, die Steintreppe hinunter, den Gang entlang, vierte Tür rechts, durch die Halle und ...

„Wie siehst du denn aus, Raven? Ist etwas passiert?"

Die heisere Stimme ließ mich am Absatz herumschnellen, doch es war nur Katrina, mit einer Gaslampe in ihrer Rechten und Besorgnis in ihrem gespenstisch blassen Gesicht. Die hellblonden Haare hoben sich kaum von ihrem Teint ab und ließen sie im Dunkeln leuchten. Man könnte sie beinahe für ein Gespenst halten, kam es mir bei ihrem Anblick unwillkürlich in den Sinn.

„Das könnte ich dich genauso fragen", erwiderte ich angesichts ihrer geröteten Wangen und glasigen Augen ohne auf ihre Frage einzugehen. „Es ist nicht gut für dich, bei solch einem Wetter durch den eiskalten Salon zu wandern. Du weißt genau, wie sich John aufregen wird, wenn er das sieht. Hast du eine gute Ausrede oder sollen wir uns gemeinsam eine ausdenken?"

Meine Cousine war ihrer Mutter gleich von klein auf kränklich gewesen. Ein ungeklärtes Fieber jagte das andere in manchen Jahren, sodass mir rasch verboten worden war, sie zum Spielen aus dem Haus zu locken. Es war daher kein Wunder, dass sich auch die alteingesessenen Bediensteten in ständiger Sorge um sie befanden. Dennoch stand sie nun inmitten eines ungeheizten Raums mit einem blütenweißen Blatt Briefpapier in der Hand, während draußen ein Gewitter tobte. Der strahlende Sonnenschein hatte sich kurz nach meiner Ankunft in eine tosende Sintflut verwandelt.

Fröstelnd verschränkte ich die Arme vor der Brust – ein erfolgloser Versuch, die fliehende Körperwärme zurückzuhalten. Im westlichen Königreich gab es nur selten einen Anlass, um meinen dicken Brokatmantel zu tragen, doch hierzulande zog der eisige Wind durch jede Ritze und Spalte, so klein sie auch war. Wie meine Cousine hier überlebte war mir seit jeher ein Rätsel.

„Oh, sorg dich nicht, denn eine bessere Ausrede könnte es gar nicht geben." Selten hatte ich Katrina mit solcher Überzeugung sprechen hören. Doch was konnte John besänftigen, wenn die Gräfin sich in Gefahr brachte? Man konnte über die Bediensteten der Rosenburg vieles sagen, doch sie nahmen ihre Pflicht ernst, die Herrin vor der Welt und sich selbst zu schützen.

Mit einem ungewohnt schelmischen Grinsen wedelte Katrina mir mit dem Brief vor der Nase herum. "Sieh doch. Du bist sicherlich neugierig, wovon ich spreche."

„So sehe ich gar nichts", fauchte ich und fischte nach dem Blatt, doch sie brachte es schnell unter ihrem Mantel in Sicherheit. Dann deutete Katrina auf den kleinen Beistelltisch neben uns. Eine exakte Kopie ihres Briefes lag dort, nur war diese Version an mich adressiert.

Flink befreite ich das Briefpapier aus dem Umschlag und las. Es war eine Einladung auf das Schloss Silbermeer und zu Prinz Jonathan. Enttäuschung machte sich in mir breit. Darum hatte Katrina solchen Wind gemacht?

SilberblutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt