♔ Jonathan VI ♔

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20. September

Das reich ausstaffierte Geschäft war bis zum Bersten gefüllt; Menschen aus jeden Winkeln der Hauptstadt schienen sich hier zu versammeln, sofern sie nur genügend Gold für ein wenig Musselin oder Seide übrig hatten. Zum tausendsten Mal an diesem Vormittag fragte ich mich, was ich hier eigentlich zu suchen hatte. Auf meinem Schreibtisch wartete ein großer Stapel an offiziellen Dokumenten und Briefen, die beantwortet werden mussten, und das wenige an Freizeit, das mir verblieb, hätte ich aus eigenem Ansporn niemals in einem Stoffgeschäft verbracht. Auf Rosalies Drängen hin hatte ich jedoch zugestimmt, der Komtess von Erzbach bei ihrem Ausflug in die Stadt Gesellschaft zu leisten, da sie unbedingt ein neues Kleid für den großen Ball ordern wollte.

Das große Fenster des Ladens bot einen Ausblick auf den geschäftigen Hauptplatz, der vor Leben förmlich vibrierte. Vor Einbruch des Winters wollte viel getan werden; auch im Schloss war hinter den Kulissen einiges los, auch wenn die Gäste davon selbstverständlich nichts mitbekamen. Mein Blick flog über die nichtssagenden Gesichter, die vorbeizogen, und ich seufzte. Es war mir bisher nicht gelungen, die melancholische Stimmung, die mich beim Frühstück überfallen hatte, loszuwerden. Nur noch vier Tage bis zu meinem Geburtstag. Ich wusste, dass meinem Vater mein Glück am Herzen lag, doch gleichzeitig war er mit einzigartiger Sturheit davon überzeugt, dass sein Leben und somit seine Herrschaft zu jeder Zeit ein plötzliches Ende finden könnte - weshalb ich vorbereitet sein musste. Seit meiner Kindheit arbeitete er wie ein Wahnsinniger daran, die Schatzkammern zu füllen und Allianzen zu schmieden; meine Bewunderung dafür hatte er, doch ab und an fiel mir das unglückliche Los zu, in seine Pläne eingebunden zu sein.

Mit einem erneuten Seufzer beschloss ich mich zusammenzunehmen, denn momentan gab ich eine fürchterliche Begleitung für die Komtess aus Erzbach ab. Meine Stimmung war derartig übel, dass ich seit unserer Ankunft in der Stadt selten mit mehr als einem Satz auf ihre freundlichen Fragen geantwortet hatte. Glücklicherweise begleiteten uns Cam und Raven, mit denen es niemals still war. Mit dem Anflug eines Lächelns beobachtete ich die beiden, wie sie hitzig über irgendetwas Nichtiges bezüglich eines Stoffes diskutierten.

Rosalie bemerkte meinen Wandel und versuchte augenblicklich ein Gespräch zu beginnen. "Meint Ihr nicht auch, dass die beiden ungewöhnlich gut zueinander passen? Zuvor hatte ich Bedenken der Schicklichkeit wegen, aber nun, da alles geregelt ist ..."

Ich schenkte ihr ein bemühtes Lächeln, um ihre vergebene Mühe, mich zu unterhalten, zu würdigen.

"Wer hätte gedacht, dass Euer kleiner Bruder sich noch vor Euch verspricht? Nicht, dass es lange dauern wird, bis Ihr seinem Beispiel folgt", fuhr sie mit einem engelsgleichen Lächeln fort, während ihre Hände sich durch Bahnen pastellfarbenen Stoffs wühlten. "Was haltet Ihr hiervon? Würde mir die Farbe zusagen, was meint Ihr?"

Mit den Gedanken ganz woanders, nickte ich bloß, ohne den Stoff wirklich anzusehen.

"Ja, sehr nett. Ihr seht bestimmt großartig darin aus", fuhr ich schuldbewusst fort, als ich ihren fordernden Blick spürte. Meine Worte entsprachen der Wahrheit, denn es war unschwer zu erkennen, dass Rosalie den meisten Männern mit nur einem Augenaufschlag den Kopf verdrehen würde. Ich war mir gar nicht so sicher, ob ich nicht selbst dazugehören würde, müsste ich nicht ständig an eine andere denken. Mittlerweile hat sie deinen Brief bereits gelesen, vielleicht ist eine Antwort auf dem Weg nach Silbermeer, sagte ich mir selbst.

"Bruderherz, hör doch auf eine solche Miene zu ziehen. Man könnte glauben, jemand hat dir deine Süßigkeiten geklaut", rief Cam quer durch den Laden und einige der Anwesenden hielten in ihren Gesprächen inne. Manche kicherten sogar verhalten. Meinen warnenden Blick tat der jüngere Prinz mit einem gleichgültigen Schulterzucken ab und auch Raven schien mehr erheitert als peinlich berührt. Mit einem breiten Grinsen lehnte sie sich an seine Schulter, zwei Gelbtöne in den Händen hin und her wendend, als könnte sie so zu einer Entscheidung gelangen.

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