♔ Jonathan V ♔

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Sechs Tage nach Viktorias Abreise, Ende August

Es war ein wundervoller Tag, zumindest in der Theorie, wurde mir bewusst. Die Sonne wärmte den adeligen Frauen auf dem Rasen die bloßen Arme und tauchte alles in ein goldenes Licht. Selbst die knorrigen Büsche und Bäume der hartgesonnenen Vegetation auf den Klippen bekamen durch sie den Anschein etwas einmalig Schönes zu sein, ein Kunstwerk für sich. Mein Blitt glitt über das leuchtende Grasmeer vor uns, das sich unter der leichten Brise beugte, und den zwei Gestalten, die viele Pferdelängen vor uns beinahe von ihm verschluckt wurden.

Ob sie sich des Bildes bewusst waren, das sie abgaben?

Am Tag nach Viktorias Abreise war es mir zum ersten Mal aufgefallen. Die Distanz, die bisher zwischen Raven und Cambriel gestanden hatte, gab es nicht mehr. Es war zwar kein Wort dazu über die Lippen meines Bruder oder meiner Freundin gekommen, aber ich war mir seit langer Zeit über die Gefühle Cams im Klaren und konnte mir den Rest denken. Ich wunderte mich nur darüber, dass sie es geheimhielten. Die anderen würden sie womöglich eine Weile lang täuschen können, doch ich hatte mich nicht einmal anstrengen müssen, um die Veränderung zu bemerken. Mir juckte es in den Fingern, einzugreifen und mit den beiden zu reden. Sie zu unterstützen. Auch wenn ich bei Cambriels damaligen Geständnis über seine Gefühle sehr überrascht gewesen war, freute ich mich für sie.

Das hilft dir auch nicht, die Versäumnisse mit Viktoria gutzumachen.

Mit einem Stirnrunzeln verdrängte ich Gedanken solcher Art. Sie waren weder hilfreich, noch trugen sie zu der guten Stimmung bei, die ich für Rosalie beibehalten wollte. Ich wandte mich zu meiner Begleiterin um, die heute in einem blassen, azurblauen Kleid zu leuchten schien. Der Stoff fiel in glänzenden Kaskaden zu Boden und erinnerte mich an Viktorias waldgrünes Lieblingskleid, das sie auf dem ersten Ball in Silbermeer getragen hatte. Unbemerkt hatte sich mir selbst eine Lieblingsfarbe eingeschlichen.

"Sagt es Euch zu, Hoheit?", erkundigte sich Rosalie, ohne den Blick vom Horizont abzuwenden. Ein zartes Lächeln zierte ihren rosaroten Mund, der sich beim Tee vorhin pausenlos bewegt hatte - womöglich um meine eiserne Stille wettzumachen.

Kalt erwischt versuchte ich der Frage zu folgen. Sie musste gemerkt haben, dass ich ihr Kleid musterte. "Es ist ...", ich unterdrückte den Drang blau zu sagen, "sehr passend."

Die Komtess von Erzbach kicherte leise und schlang ihre behandschuhten Hände um meinen Unterarm. Wie es von mir erwartet wurde, führte ich sie den weiteren Weg, auch wenn bei der wachsenden Nähe eine leichte Irritation in mir aufzusteigen begann. Entschieden kämpfte ich sie nieder. Viktoria war fort; es war meine Aufgabe für die Einigkeit des Königreichs zu heiraten und in diesem Licht spielten meine persönlichen Gefühle keine Rolle mehr. Ich mochte auf teure Bälle eingeladen werden, das beste Essen serviert bekommen und bloß die erlesensten Stoffe tragen - doch all dies hatte seinen Preis und ich hatte es schon immer gewusst. Mein Bruder hatte sich nie damit abgefunden, dass wir in unsere Rollen ungefragt hineingeboren waren, doch es sah so aus, als müsste er sich nicht entscheiden. Ich hingegen ...

"Ich habe es erst gestern machen lassen. Wenn ich offen sprechen darf?"

Abwesend nickte ich und ließ sie meine Selbstmitleidstirade unterbrechen.

"Euer Bruder sollte womöglich ein wenig vorsichtiger damit sein, wie er sich seinen Freunden nähert. Ich bin mir des stürmischen Gemüts der Prinzessin sehr wohl bewusst. Dennoch würde es ihnen gut stehen, ein wenig Abstand zu halten."

Natürlich würde sich Almar bei dem Anblick der beiden die Haare raufen und die nächste Migräne erwarten; schließlich war es in den Augen der feinen Gesellschaft nicht angemessen, eine heimliche Abmachung einzugehen oder sich ohne Anstandsdame weit von der Gruppe zu entfernen. Doch er war in Begleitung seines Bruders und seiner Freunde. Ich hielt nichts davon, Cam ohne Unterlass zu belehren und in Konventionen einzusperren, die ihm nicht gut taten, solange er gewisse Grenzen wahrnahm und sich in Anwesenheit Fremder zurückhielt. Mein Vater hatte es jahrelang mit Strafen und Verboten versucht und war damit gescheitert. Ein eingesperrter Cam war wie ein hungriger Tiger im Käfig; er brauchte das Leben, wie es wirklich war. Nicht dieses endlose Gartenfest, das der Adel lebte.
Es hatte bestimmt seine Vorteile. Du könntest dir das nächste Pferd schnappen und ihr nachreiten ...

SilberblutWhere stories live. Discover now