30. Wettlauf gegen die Zeit

4.9K 272 88
                                    

Ich hatte Dr. Yersin wie besprochen eine Probe von einem Patienten gebracht. Dafür hatte ich einen Patienten mit schwerwiegenden Symptomen ausgewählt, ihm mit Hilfe eines langen Wattestäbchens Speichelproben aus dem Rachenraum entnommen und diesen auf den Boden der Petrischale ausgestrichen. Damit bin ich dann ins Labor geeilt, wo Dr. Thomas den Herren gerade noch die Ausstattungen des Labors zeigte. Ich war erstaunt, mit was für einem Eifer die Mediziner bei der Sache waren. Sie verschwendeten gar keine Zeit, zogen sich ihre Kittel über und machten sich jeder für sich an die Arbeit.

Mr. Yersin setzte sich sofort ans Mikroskop und packte seine gut verschweißten Bakterien heraus, die ebenfalls auf einer Petrischale wuchsen. Dann nahm er mir die Patientenprobe ab und verglich diese optisch miteinander.

In der Zwischenzeit packte Mr. Gosio seinen Schimmelpilz heraus, von dem er ein Antibiotikum herstellen wollte. Laut eigener Aussagen hatte er das wohl oft genug gemacht und es war nur reines Abarbeiten der Schritte seines Protokolls. Da half ihm eifrig sein Gehilfe, der auch schon für das Tragen der Koffer verantwortlich war.

Dr. Pasteur wiederum hatte mich um ein infiziertes Gewebestück gebeten. Das sollte heißen, dass ich einem bereits toten Patienten eine Lungenprobe entnehmen sollte. Allein bei dem Gedanken verzog ich angewidert das Gesicht. Zum Glück war Dr. Thomas dabei gewesen, der sofort vorschlug, dass wir das gemeinsam machen könnten. Dr. Pasteur erklärte uns, dass wir die weitere Ausbreitung der Lungenkrankheit nur stoppen konnten, wenn wir wüssten, wo sie überhaupt herkam. Dafür wollte er einige Tests durchführen. Und hierfür wiederum brauchte er erstmal eine Gewebeprobe.

Dr. Thomas und ich gingen zum Hinterhof, um einen Toten aus den Berg von Leichen wieder herunterzunehmen. Zu unserem Glück hatten die Schwestern die Leichen mit Bettlaken umwickelt, denn auf diese Weise mussten wir den Toten nicht direkt in die Augen schauen. Wir legten die Leiche mit geballter Kraft auf eine Trage und trugen ihn in einen Operationssaal. Da die Leiche noch relativ frisch war, war der Verwesungsgestank noch nicht sehr fortgeschritten. Ich musste mich dennoch sehr stark konzentrieren, um mich nicht zu übergeben. In der Pathologie wollte ich niemals arbeiten. Ich wollte lieber Menschenleben retten, statt die Toten zu untersuchen. Dr. Thomas, der sich auch zusammen zu reißen schien, nahm das Skalpell und öffnete den Brustkorb des Toten. Er ging vor wie bei einer normalen Operation, um an die Lunge zu gelangen, und schnitt dann schließlich kleine Teile ab. Ich musste daran denken, dass dieser Mann nie seine Zustimmung gegeben hatte, um nach dem Tod seinen Körper für die Wissenschaft zur Verfügung zu stellen. Aber im Moment schien das niemanden wirklich zu interessieren. Verrückt, dass es wie selbstverständlich angesehen wurde.
Ich sammelte alles in einem sterilen Becher, welchen wir nach erfolgter Entnahme zurück ins Labor brachten und Dr. Pasteur überreichten. Zufrieden sah er sich die Teile an, ehe auch er sich an die Arbeit machte.

Nach langer Untersuchung der Bakterien unter dem Mikroskop, nickte Dr. Yersin schließlich zufrieden. „Optisch gesehen sind sich die Bakterien sehr ähnlich. Stäbchenförmig, ohne Geiseln, keine Kapseln, Bewegungsmuster ähnlich."

„Darf ich schauen?", fragte Dr. Pasteur und trat an das Mikroskop. Dr. Yersin machte ihm Platz und trat beiseite, damit dieser in das Gerät schauen konnte.

„Es könnte sich demnach um Pestis-Bakterien handeln", erklärte Dr. Yersin und notierte etwas in sein Notizbuch.

Pestis? Also wie die Pest?", fragte Dr. Thomas verwirrt. Erst dann verstand ich, worauf Dr. Yersin anspielte. Er hatte die Lungen-Pest im Verdacht. So wie ich mich erinnern konnte, war die Pest ohnehin lange ein Problem gewesen - nicht nur im 19. Jahrhundert, sonder schon viel früher mit verheerenden Folgen, wie der schwarze Tod im 14. Jahrhundert. Im Grunde genommen war die Pest immer da gewesen, bis sich die Hygienemaßnahmen verbesserten.
Demnach war es naheliegend, dass es sich eventuell um einen erneuten Ausbruch der Krankheit handeln könnte.

Ella - Die Stille nach dem SturmWhere stories live. Discover now