2. Der Herr des Hauses

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Es vergingen 5 Tage.

5 lange, verdammte Tage.

Mit jedem vergangenen Tag verlor ich ein wenig mehr die Hoffnung jemals wieder in meine Zeit zurückkehren zu können. Es wurde mir schmerzhaft bewusst, dass das alles kein Traum war. Tiefe Verzweiflung machte sich in mir breit, während ich allmählich in den Alltag integriert wurde – als wäre ich tatsächlich ein Teil von hier.

Mathilda hatte mich die ersten drei Tage noch mit den Hausarbeiten verschont und mich die meiste Zeit in Frieden gelassen. Ich schlenderte heimlich im Haus herum und stahl mir gelegentlich ein Buch aus dem Bücherregal im Salon und las sie in meinem Zimmer.

Als ich jedoch mehr Farbe im Gesicht bekam - so Mathildas Erklärung - gab sie mir Aufgaben, die ich im Haus erledigen sollte. So musste ich beispielsweise das Geschirr waschen, den Boden wischen oder mit Marie die Fenster im oberen Stockwerk putzen.

Während dieser Tage hatte ich keine Gelegenheit das Anwesen ein weiteres Mal zu verlassen. Jedes Mal, wenn ich sagte, ich wolle kurz frische Luft schnappen, sah mich Mathilda an, als wäre mir ein zweiter Kopf angewachsen, und hatte mir sofort eine neue Aufgabe erteilt. Zudem wurde sie mit der Zeit immer neugieriger und fing an mir Fragen über meine Herkunft zu stellen. Ich log größtenteils nicht; Ich gestand, dass ich aus einem völlig fremden Ort kam, wo es ganz andere Sitten gab und es sogar Frauen gestattet war zur Schule zu gehen oder Büroarbeit zu verrichten. Sie hatte mich mit großen Augen angesehen.

Ich erklärte ihr, dass ich deshalb ihre meisten Umgangsformen nicht kannte. Sie war erst völlig schockiert, aber gab sich schließlich sehr große Mühe mir zu zeigen, wie sich eine Dame in ihrem Lande zu verhalten hatte und wie hier die Dinge liefen.

Während die anderen Bediensteten beschäftigt waren, zeigte sie mir knapp, wie sich eine Dame zu verbeugen, zu setzen, zu gehen, zu stehen und zu reden hatte. Es war sogar nicht gern gesehen, wenn ein Fräulein lauthals in der Öffentlichkeit lachte – es sei denn man war reich. Die Reichen hatten selbstverständlich Sonderregel. Für sie galten die meisten Sitten nicht. So durfte ein Fräulein beispielsweise nicht reiten – Gott bewahre, man könnte sonst die Beine sehen. Reichen Damen allerdings durften reiten, solange sie die Beine nicht spreizten. Sie sollten sich mit zusammengelegten Beinen seitlich auf das Pferd setzen.

Wie man auf die Weise richtig reiten sollte, war mir schleierhaft.

Aber nun gut. Es konnte mir auch egal sein, wer wie reiten durfte.

Aber die Ungerechtigkeit fand ich schrecklich.

Nur weil den reichen Damen deutlich mehr erlaubt war, war es der größte Traum eines jeden armen Mädchens eines Tages reich zu heiraten. Das war nämlich der einzige Ausweg aus der Armut. Schrecklich.

Allein in den wenigen Tagen, in denen ich nun im Anwesen war, sprachen Marie und Hilde von nichts anderem, als irgendwann einmal einen reichen jungen Mann kennenzulernen und zu heiraten. Das war ihr Lebensziel. Mehr gab es nicht.

Schrecklich.

Am nächsten Tag noch schüttelte ich innerlich den Kopf bei dem Gedanken. Aber ich sagte nichts, denn es würde ohnehin nichts ändern. Keiner wollte in dieser Misere leben und ich konnte das gut nachempfinden. Das magere Frühstück, das gerade so meinen Hunger sättigte, machte mir allzu deutlich, was es hieß arm zu sein. Jeder würde dem entfliehen wollen.

„Ella, die Bettwäsche im oberen Stockwerk muss gewechselt werden.", sagte Mathilda und riss mich aus meinen Gedanken.

Ich blinzelte kurz verwirrt, als ihre Worte mich erreichten. Dann stöhnte ich innerlich auf, als ich an die ganzen Gästezimmer im oberen Stockwerk dachte. „Kann ich nicht vielleicht etwas anderes tun? Einkaufen gehen oder so?"

Ella - Die Stille nach dem SturmWo Geschichten leben. Entdecke jetzt