37. Blick in die Zukunft (ENDE)

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Am frühen Morgen wurde ich durch das laute Plätschern des Regens am Fenster geweckt. Noch ehe ich an irgendetwas anderes denken konnte, zog es sich in meiner Brust schmerzlich zusammen. Der Regen erinnerte mich daran, was ich so sehnlichst verdrängen wollte. Ich sah zu Nathan, der neben mir lag und tief schlief. Sein entspanntes Gesicht und die regelmäßigen Atemzüge beruhigten mein Herz. Ich hätte in diesem Moment alles dafür gegeben, wenn ich die Zeit anhalten könnte. Wie gerne ich in dem Moment die Konturen seines Gesichts mit dem Finger nachzeichnen, ihm durchs Haar streichen oder küssen wollte, aber ich wusste, das ihn das wecken würde. Er durfte aber nicht aufwachen. Nicht ehe, ich gegangen war.

Die Enge in meiner Brust macht es mir schwer zu atmen. Er hatte einen Arm um mich geschlungen, welchen ich langsam und vorsichtig von mir schob. Ich setzte mich auf und drehte mich zu ihm um. Ich betrachtete sein Gesicht und versuchte jedes kleine Detail zu verinnerlichen, ehe ich mich zwang meinen Blick von ihm zu wenden. Wenn ich mich nicht zusammenreißen würde, wäre ich vermutlich geblieben - aber das durfte ich nicht tun.

Ohne zu viele Geräusche zu verursachen, stand ich auf und sammelte mein Nachthemd vom Boden auf, das ich mir mit einer schnellen Bewegung überzog.

Dann trat ich ans Fenster.

Das erste Mal empfand ich beim Anblick des Regens keine Furcht mehr. Ich sah dem Regen entgegen, wie einen alten Freund. Ich hatte innerlich mit dem Thema abgeschlossen - auch wenn ich traurig war. Ich war entschlossen allem ein Ende zu setzen, denn ich hatte die Nase voll. Weder wollte ich weiterhin mit der Angst leben, dass der Sturm mich irgendwann erwischen könnte, noch mit der Befürchtung, dass meine Lügen und Geheimnisse mich eines Tages einholen könnten. Es reichte.

Es war das Gewitter gewesen, das mich hergebracht hatte, und es wird das Gewitter sein, das mich wieder fortschicken würde. Fast so, als wären von Anfang an meine Tage nur gezählt gewesen. Als wäre ich ausgewählt worden, die Schönheit der Vergangenheit zu sehen, ehe ich wieder gehen musste.

Ich wusste nun, was ich tun musste, um endlich Ruhe und Frieden einkehren zu lassen. Ich konnte nichts an dem Schicksal ändern, das für mich bestimmt war. Das wusste ich jetzt mit Gewissheit.

Ich ging auf Zehenspitzen zur Zimmertür und öffnete sie vorsichtig. Bevor ich hinaustrat, blickte ich ein letztes Mal über meine Schulter zu Nathan herüber. Ein stechender Schmerz durchzuckte mich bei dem Wissen, dass ich ihn zurücklassen musste. Das war das letzte Mal gewesen, dass ich ihn sehen würde.

Ich schluckte schwer und ignorierte das Gefühl der Leere, das sich in mir ausbreitete. Dann drehte ich mich um und ging hinaus. Langsam schloss ich die Tür hinter mir und lief zum Gästezimmer hinüber. Dort zog ich meine Alltagsklamotten an, während der Regen draußen immer heftiger wurde. Die Wolken wurden dunkler und die Zeichen des aufkommenden Sturms wurde immer deutlicher.

Ich strich mir das Kleid zurecht und trat dann hinaus auf den leeren, dunklen Flur. Mein Blick huschte wie von selbst zu Nathans Schlafzimmertür. Ich konnte die Hoffnung nicht leugnen, die in mir schlummerte, er würde jetzt hinauskommen und mich aufhalten. Aber ich wusste, dass das nicht passieren durfte. Dieses Mal nicht. Nicht mehr. Ich musste mich dem Sturm stellen.

Ich ging die Treppe hinunter und hielt vor der großen Eingangstür an. Mit einem traurigen Gefühl in der Brust sah ich mich nochmal in der Eingangshalle um. All die Erinnerungen und Geschehnisse, die hier passiert waren, sah ich vor meinem geistigen Auge. Gedankenverloren zog ich mir meinen Mantel über und zog ihn fest. Obwohl ich noch nicht draußen war, war mir schrecklich kalt. Als ich an die Tür trat, blieb mein Blick am Spiegel hängen. Ich musste zwei Mal hinsehen, als ich mich selbst sah. Erschrocken über mein blasses, fades Aussehen erstarrte ich eine Sekunde in der Bewegung. Es war fast so, als wär jedes Leben aus mir gewichen und mein Innerstes bereits gestorben. Ich funktionierte nur noch und fühlte mich wie eine leere, kalte Hülle.

Ella - Die Stille nach dem SturmWo Geschichten leben. Entdecke jetzt