33. Das Erwachen

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* Nathans POV*

Mit zittrigen Lidern machte ich die Augen auf.

Wo war ich?

Ich blinzelte mehrmals und brauchte einen Moment, bis sich meine Augen an das grelle Licht im Schlafzimmer gewöhnten.

Wie viel Zeit war vergangen?

Langsam drehte ich meinen Kopf. Das Fenster stand offen und eine Brise wehte die Vorhänge auf. Es war völlig still. Der Geruch von Regen und feuchter Erde lag in der Luft. Ich beobachtete für einen Moment den Tanz der Vorhänge in der Brise. Es hatte etwas friedliches an sich.

Als ich schlucken musste, durchzuckte mich ein Schmerz, der mich daran erinnerte, warum ich in diesem Bett lag. Ich fasste mir an den Hals. Wie lange mir wohl noch blieb, bis ich starb?

Ein Rascheln am anderen Ende des Bettes ließ mich aufblicken. Ella saß auf einem Stuhl, hatte sich auf das Bett vornübergebeugt und den Kopf auf die verschränkten Arme gelegt. Ihre Augen waren verschlossen und sie atmete regelmäßig. Sie schien zu schlafen. Ich setzte mich vorsichtig auf und lehnte mich an das Kopfende des Betts, während ich ihr Gesicht beobachtete. Ich versuchte jedes Detail zu verinnerlichen. Die Kontur ihrer Nase, die Kurven ihrer Lippen, die Röte ihrer Wangen und der Schwung ihrer Wimpern. Alles.

Als könnte ich die Erinnerungen mit in den Tod nehmen.

Bei dem Gedanken packte mich ein unbeschreiblich trauriges Gefühl, das mich selbst überraschte. Bisher hielt ich mich fern von solchen Gefühlen und erlaubte mir keinesfalls eine solche Schwäche. Lange dachte ich sogar, ich wäre gar nicht mehr fähig sowas wie Schmerz oder Sorge zu fühlen. Ich hatte keine Angst vor dem Tod und würde auch nie Angst verspüren. Aber ich musste mir eingestehen, dass mich die Tatsache quälte, dass mir meine Zukunft entging. Eine Zukunft voller Chancen und Möglichkeiten. Eine Zukunft mit Tatendrang und Veränderungen. Eine Zukunft mit Ella.
Letzteres versetzte mir einen Stich. Ich hätte niemals für möglich gehalten, dass mich der Abschied von einer Frau so stark mitnehmen würde. Der Gedanke, ich würde sterben und sie würde eines Tages an der Seite eines anderen Mannes stehen, war unerträglich. Die Vorstellung allein genügte um mich mit aller Kraft an das Leben zu klammern. Selbst wenn mein Überleben hoffnungslos war...

Fast als hätte sie meinen Blick gespürt, machte sie stöhnend die Augen auf. Sie blinzelte mehrmals und rieb sich die müden Augen, ehe sie sich aufrichtete. Ich musste schmunzeln, als ich sah, wie ihr eine Strähne an der Wange klebte. Sie bemerkte es eine Sekunde später selbst und strich sich müde die Strähne aus dem Gesicht. Als sie zu mir herüberblickte, riss sie mit einem Schlag die Augen weit auf. „Nathan.", keuchte sie auf, überrascht mich wach zu sehen. Sie stand sofort auf und setzte sich auf die Bettkante, um meine Hand in ihre zu nehmen. Eine Berührung, die so vertraut wirkte, aber zugleich so ungewohnt für mich war. Ihre Hand war zärtlich und weich. Ein Detail, dem ich sonst niemals Achtung geschenkt hätte. Aber an ihr fand ich jede Kleinigkeit faszinierend.

„Du bist wach.", stellte sie mit einem Lächeln auf den Lippen fest. „Wie fühlst du dich?"

Ich sah die Sorge in ihren Augen. Sie schien erschöpft, hatte dunkle Schatten unter den Augen und wirkte viel dünner, als ich sie in Erinnerung hatte. Ich biss die Zähne zusammen bei ihrem müden Anblick. Ich war der Grund, weshalb sie sich so dermaßen Sorgen machte, dass sie sich selbst vernachlässigte. Sie opferte sich meinetwegen auf. Der Gedanke allein verärgerte mich. Ich war kein Mann, der sich in einer solchen Situation wiederfinden wollte. Es gefiel mir ganz und gar nicht. Ihr Anblick genügte, um mich dazu zu zwingen, mich zusammenzureißen. „Ich brenne nicht mehr.", krächzte ich zur Antwort. Meine Stimme klang, als hätte ich tagelang nicht gesprochen.

Ella - Die Stille nach dem SturmWo Geschichten leben. Entdecke jetzt