1. In der Zeit gefangen

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Wie betäubt lag ich am frühen Morgen auf der steinharten Matratze und blickte gen Decke. Es fühlte sich alles so surreal an. Das konnte nicht wahr sein! Gestern war ich noch im 21. Jahrhundert, habe auf meinem iPhone die Mails gecheckt, konnte Jeans tragen ohne als halbnackt bezeichnet zu werden und fuhr mit dem Bus quer durch die halbe Stadt. Und heute?

Ich befand mich tatsächlich im späten 19. Jahrhundert und wusste nicht wie ich zurückkehren konnte. Wie war so etwas überhaupt möglich? Keine Gesetze der Physik oder Mathematik konnte meine Situation erklären! Hatte ich mir den Kopf an einem Stein angeschlagen und lag eigentlich im Koma? Das musste sich alles in meinem Kopf abspielen! Eine andere Möglichkeit gab es nicht.

Aber wieso fühlte sich alles dann so echt an?

Mit einem Stöhnen schlug ich mir die Hände auf die Stirn und atmete tief durch. Ich musste irgendwie zurückkehren - koste es, was es wolle!

Als die ersten Sonnenstrahlen durch das Fenster schienen, kam Mathilda nach einem kurzen Klopfen an der Tür ins Zimmer. Motiviert und voller Elan zwang sie mich aufzustehen und riss mich somit aus meinen düsteren Gedanken. Sie gab mir einen Morgenmantel, den ich über das Nachtkleid anziehen sollte. Gemeinsam gingen wir zur Küche rüber. Sie machte uns Frühstück. Nicht lange nach unserem Eintreten, kamen auch schon die anderen Hausmädchen und Peter, der sich als der Wächter des Hauses vorstellte, zum Frühstücken in die Küche. Die Hausmädchen waren zunächst völlig verwirrt bei meinem Anblick. Mathilda erklärte in knappen Sätzen, was gestern Abend vorgefallen war und stellte mich der Gruppe vor.

Hilde war die erste, die sich vorstellte und mich in eine herzliche aber merkwürdige Umarmung schlang, als würden wir uns schon Jahrelang kennen. Sie war die Tochter von Mathilda, was ihre liebevolle Art erklärte. Sie war erst 17 Jahre alt und eine zierliche Gestalt. Sie hatte blondes, langes Haar, das sie zu einem Zopf geflochten hatte. Ihre braunen Augen waren rund und wirkten unschuldig. Sie hatte die Augen ihrer Mutter.

Marie war ein kräftiges Mädchen von 19 Jahren. Sie war die Nichte von Mathilda und kam von sehr weit her. Als ihr Vater verstorben war, wurde sie hergeschickt um arbeiten zu können. Als Frau ohne Vater oder Mann war es schwer ein Dach über dem Kopf zu behalten, daher blieb ihr nichts anderes übrig als ihre Familie zu verlassen. Sie hatte dunkles Haar, das ebenfalls zusammengebunden war. In der ganzen Runde war sie die Witzige. Ich mochte auf Anhieb ihre sarkastische Art. Ihre braunen Augen verrieten die Verwandtschaft mit Hilde.

Dann gab es da noch Rosalie. Sie war eine bildhübsche junge Frau. Sie hatte ein sehr schmales Gesicht mit einem kleinen Muttermal auf der linken Wange. Ihre vollen, roten Lippen hätten mit Botox aufgespritzt sein können. Ihre grünen Augen fixierten mich. Ich fühlte mich unbehaglich unter ihrem forschenden Blick. Mathilda erzählte mir, dass Rosalie wie ich eines stürmischen Nachts vor der Tür stand und um Hilfe bat. Es war nicht schwer zu erraten, dass man ihr geholfen hatte und sie seither hier arbeitete. Rosalie war ein sehr verschlossenes Mädchen und redete kaum. Auch bei der Vorstellung nannte sie nur ihren Vornamen und machte sich dann kurzerhand daran Mathilda beim Zubereiten des Frühstücks zu helfen, während die anderen beiden Mädchen mich mit Fragen durchbohrten. Aber Mathilda unterbrach sie immer wieder - wofür ich sehr dankbar war. Ich hätte keine dieser Fragen beantworten können. Wie denn auch? Es würden mich alle für verrückt halten, wenn ich gestehen würde, dass ich durch die Zeit gereist war.

Die Mädchen waren allesamt für das Kochen, Putzen, Servieren und alles weitere, was mit dem Haus zu tun hatte, zuständig.

Ich versuchte mein Bestes, um mich an die Gegebenheiten anzupassen. Das Frühstück bestand aus nicht viel; Wir hatten Brot, Käse, einen Salat aus nichtdefinierbaren Kräutern und einem Rührei, das wir uns teilen sollten. Ich empfand Mitleid, während wir da so saßen. Soviel wie ich sonst immer aß, hätte das Frühstück gerade so für mich allein gereicht. Da ich allerdings noch von den Geschehnissen mitgenommen war, bekam ich ohnehin nicht viel runter. Ich war allerdings dankbar darüber, dass die Mädchen viel redeten und ich so tun konnte, als würde ich gespannt zuhören, obwohl ich völlig in Gedanken war.

Ella - Die Stille nach dem SturmWhere stories live. Discover now