6. Schlaflose Nacht

14.1K 679 169
                                    

„Schwester Ella."

Ich drehte mich überrascht zu Doktor Thomas um. Er war ein alter Herr mit weisen, blauen Augen, die mich ernst ansahen. Er hatte graues, volles Haar und einen dichten Henriquatre Bart, um den Mund herum und rasierte Wangenknochen. So wie Juli, hatte auch er nie Vorurteile mir gegenüber gezeigt und mich immer versucht zu unterstützen. Vermutlich lag es daran, dass er positiv überrascht über meine erfolgreiche Wiederbelebung des Herrn an meinem ersten Tag gewesen war. Er war sich jedenfalls nicht zu schade, mein Können hin und wieder zu loben.

Ich war im Begriff gewesen den Blutdruck eines Patienten zu messen, als ich mich zu ihm umdrehte. „Ja, Sir?"

„Doktor Richard und ich haben gleich eine Operation und ich wünsche mir, dass Sie uns assistieren."

Meine Augen weiteten sich. „Ich?" Euphorie durchströmte auf Anhieb meinen ganzen Körper.

„Ja, Sie haben in den letzten Wochen bewiesen, was sie können.", sagte er mit einem Lächeln. „Unser Krankenhaus gehört zu den wenigen, die Operationen durchführen - es ist nach wie vor ein kontrovers diskutiertes und heikles Thema. Die meisten Schwestern weigern sich... einen Körper dermaßen entstellt zu sehen. Wenn sie auch solche Bedenken haben, dann-."

„Nein!", unterbrach ich ihn sofort, „Nicht im Geringsten. Ich habe kein Problem damit. Um ehrlich zu sein, habe ich bereits einige Operationen assistieren dürfen."

Der Arzt hob überrascht die Augenbrauen. „Dann habe ich mich wohl an die richtige Person gewendet."

Ich konnte mein Lächeln nicht unterdrücken. „Erzählen Sie mir von Ihrem Patienten.", bat ich.

Er nickte und wies mir mit einer Handbewegung ihm zu folgen.

Ich wandte mich schnell zu Juli, die neben mir die Spritzen sortierte. „Übernimmst du das Blutdruckmessen des Patienten?", bat ich sie. Sie nickte wortlos und nahm mir die Herzpumpe ab. Daraufhin folgte ich Doktor Thomas zum Operationssaal. Er überreichte mir eine Akte.

„Der Patient heißt Michael Todzy. Er ist verheiratet und hat drei Kinder. Er ist beim Reiten unglücklich vom Pferd gestürzt und hat sich dabei den Kopf gestoßen, sowie eine Rippe gebrochen. Er hat innere Blutungen, die wir stoppen müssen. Wir wissen allerdings nicht, ob er wieder zu sich kommen wird, auch wenn die Operation erfolgreich läuft. Seine Überlebenschancen sind gering. Er wird gerade für die Operation vorbereitet und gleich hergebracht. Wir werden unter Narkose arbeiten. Haben Sie schonmal davon gehört?"

Ich nickte.

„Gut. Großschwester Helene wird während der Operation dafür sorgen, dass der Mann weiter atmet." Er zeigte auf einen Beatmungsbeutel, den man manuell betätigen musste. Ich biss mir auf die Unterlippe bei den schwierigen Gegebenheiten. Ich war es gewohnt, dass diese Aufgabe die Herz-Lungen-Maschine übernahm. „Sein Puls schlägt, aber seine Atmung ist nicht stark genug."

„Die gebrochene Rippe kann die Lunge beschädigt haben.", vermutete ich, woraufhin der Arzt nickte.

„Sie werden mir während der Operation die nötigen Werkzeuge überreichen. Bei möglichen Komplikationen hoffe ich auch auf schnelle Reaktionen Ihrerseits, ja?"

Ich nickte. „Natürlich."

„Dann sollten wir uns nun säubern, bevor Doktor Richard mit dem Patienten kommt.", schlug er vor und krempelte seine Ärmel hoch, bevor er in das benachbarte Raum ging, wo mehrere Waschbecken zu finden waren.

Wir wuschen uns und begaben uns wieder in den Operationssaal. Die Utensilien wurden desinfiziert, indem sie für mehrere Minuten ausgekocht wurden.

Der Patient wurde kurze Zeit später auf einem Bett von Großschwester Helene und Doktor Richard gebracht. Obwohl der Patient bewusstlos war, wurde bei Narkose gearbeitet, um auf Nummer sicher zu gehen. Doktor Thomas und Richard standen jeweils auf einer Seite des Patienten. Ich stand neben Doktor Thomas.

Ella - Die Stille nach dem SturmWhere stories live. Discover now