12. Der Brief an die Öffentlichkeit

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Am Montagmorgen stand ich noch vor allen anderen auf, um mich für die Arbeit im Krankenhaus fertig zu machen. Ich nahm unter der Matratze meinen Brief hervor und steckte ihn mir ins Korsett. Es war an der Zeit, dass ich mich um den Druck kümmerte. Ich wollte die Veröffentlichung nicht länger hinauszögern.

Ich hatte mir vorgenommen, während der Mittagspause aus dem Krankenhaus zu schleichen, um mich zur Druckerei zu begeben. Da Schmidt mir vor und nach der Arbeit an der Backe hing, war das der einzige Weg. Es war frustrierend. Alles was ich wollte, war aus dem Haus zu gehen, ohne dass ich jemanden Rechenschaft schuldig sein musste. Wieso war das so schwer?

Ich strich mein Kleid zurecht und trat aus dem Zimmer. Ich begab mich in die Küche und bereitete das Frühstück vor. Nicht viel später gesellte sich Mathilda zu mir. Sie trug ihren Morgenmantel und war überrascht mich zu sehen.

„Guten Morgen.", begrüßte ich sie mit einem Lächeln.

„Guten Morgen, Mäuschen.", erwiderte sie und half mir dabei das Gemüse klein zu schneiden. Es verging eine Weile ohne, dass jemand von uns etwas sagte.

„Sag mal, Ella.", kam sie zu Wort und brach die Stille, „Du hast nie von deiner Herkunft erzählt. Gibt es denn niemanden, der sich Sorgen um dich macht?"

Ich erstarrte in der Bewegung.

Wie kam sie denn jetzt darauf? Es waren inzwischen Monate vergangen, seit meiner Ankunft. Ich selbst hatte sogar vergessen, dass niemand von meiner wirklichen Herkunft Bescheid wusste... ich hatte mich inzwischen so gut eingelebt, dass es mir vorkam, als wäre ich mein Leben lang nie wo anders gewesen.

„Ähm, nein. Es macht sich niemand Sorgen um mich.", antwortete ich schließlich und biss mir auf die Unterlippe.

Zugegeben, ich hatte bei allem, was mir geschehen war, vergessen einen Weg zurück in meine Zeit zu suchen. Natürlich wollte ich immer noch nach Hause, aber inzwischen war es irgendwie erträglich hier zu leben.

„Bist du dir sicher?", hakte sie nach, „Du hast doch sicher Eltern. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich nicht fragen würden, was mit dir ist."

Ich schluckte schwer. Ich musste mir schnell etwas ausdenken, denn sie stellte zu spezifische Fragen, denen ich nur schwer ausweichen konnte. „Also...ich rede nicht gerne drüber, Mathilda. Es ist mir unangenehm."

Sie machte große Augen. „Mach dir gar keine Sorgen, Mäuschen. Es bleibt ganz unter uns. Ist es was schlimmes?"

Ich zögerte unbehaglich und trat von einem Fuß auf den Anderen. „Ich... äh... ich bin von zu Hause weggelaufen, weil man mich zum Heiraten zwingen wollte.", log ich und wich ihren Blicken aus, „Ich will und kann unter keinen Umständen mehr zurück. Sie würden mich umbringen."

„Oh, Mäuschen!", keuchte sie betroffen und nahm mich sofort in die Arme. Ihre naive und unschuldige Art tat mir im Herzen weh. Eine so nette und fürsorgliche Frau anzulügen, war mir furchtbar unangenehm. „Du brauchst dir gar keine Gedanken zu machen, Ella. Hier ist dein Zuhause! Ich bin immer für dich da, in Ordnung? Wir passen immer aufeinander auf."

„Danke, Mathilda.", murmelte ich an ihrer Schulter, während sie mir beruhigend den Rücken tätschelte. Ich hatte schreckliche Schuldgefühle. Sie war einfach zu nett... es war so schwer sie anzulügen.

Ich kaute nervös auf meiner Unterlippe. Ich wusste nicht, wie lange ich all die Lügen und Geheimnisse noch aufrecht halten könnte.

Zum Glück platzten Marie und Hilde in die Küche und unterbrachen uns. Überrascht sahen sie uns an, während wir uns aus der Umarmung lösten. Noch bevor die Mädchen irgendwelche Fragen stellen konnten, lenkte Mathilda sofort vom Thema ab und erteilte beiden mit plötzlich strengem Ton irgendwelche Aufgaben. Ich seufzte innerlich erleichtert auf.

Ella - Die Stille nach dem SturmWhere stories live. Discover now