31. Alles oder Nichts

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Ich stieß die große Eingangstür des Anwesens auf und lief atemlos über den Flur sofort die Treppen hoch. Dass meine Füße schmerzten, merkte ich kaum. Ich war die komplette Strecke vom Krankenhaus zum Anwesen gelaufen, hatte mich auch nicht mehr umgezogen und war in der Krankenschwester Kleidung durch die Straßen gerannt ohne einmal anzuhalten, denn in meinem Kopf drehte es sich nur noch um Nathan. Irgendwo in der Hälfte der Strecke hatte ich Schmidt zurückgelassen, der völlig erschöpft eine Pause einlegen musste, da er vorher bereits atemlos gewesen war. 

Oben auf dem Treppenabsatz lief ich geradewegs zu Nathans Schlafzimmer. An der Tür standen alle Bediensteten dicht an dicht und versperrten mir den Weg.

„Lasst mich durch!" Ich drängte mich an ihnen vorbei, als sie nicht sofort reagierten. Mein Herz setzte einen Schlag aus, als ich Nathan verschwitzt und schwer atmend auf dem Bett liegen sah. Mathilda saß neben ihm auf einem Stuhl und legte ihm ein feuchtes Tuch auf die Stirn.

Ich beugte mich ohne Zögern über das Bett und legte Nathan eine Hand an das heiße, verschwitzte Gesicht. Er hatte die Augen geschlossen. „Nathan? Hörst du mich?"

Ich spürte Mathildas Blick von der Seite. Aber was sie oder die anderen an der Tür dachten, war mir schlichtweg egal gewesen. In diesem Augenblick ging es mir nur um Nathan.

Als er nicht reagierte, packte mich die blanke Panik. Augenblicklich hielt ich zwei Finger an sein Puls. Er war jedoch deutlich zu spüren. Ich hob seine Augenlider, um die Pupillen im Licht zu untersuchen. Aber auch die waren normal.
Er zeigte die typischen Symptome, die ich allzu gut aus dem Krankenhaus kannte. Sein Körper brannte förmlich. Er hatte hohes Fieber, das schnell gesenkt werden musste.

„Er muss sich angesteckt haben.", murmelte ich und biss die Zähne zusammen. Wann und wie, wusste ich nicht. Aber es war geschehen und wie es aussah, musste es überraschend in den letzten Tagen seiner Abwesenheit passiert sein. Die Pest hatte einen schnellen Krankheitsverlauf, der mich schier erschreckte.

„Wird er sterben?", wollte Mathilda mit Sorge in der Stimme wissen. Die Frage versetzte mir einen Stich, der unglaublich weh tat. Lieber wäre es mir gewesen, man hätte mir ein Messer in die Brust gerammt. Denn so sehr ich diese Frage auch mit völliger Überzeugung verneinen wollte, konnte ich nichts sagen. Die Worte von Dr. Pasteur und Yersin gingen mir nicht aus dem Kopf. Die Patienten, die bereits krank waren, könne man nicht mehr retten...

„Was sollen wir tun?", fragte Marie zögerlich an der Tür, als keiner antwortete.

Ich atmete tief durch, um einen klaren Verstand zu bewahren. Sein Anblick tat mir im Herzen weh.Ich würde lieber sterben, als tatenlos rumzustehen.

„Ich brauche hochprozentigen Alkohol, um mir die Hände zu waschen, Mathilda. Egal wie teuer der gute Alkohol ist. Bring ihn mir. Außerdem brauchen wir eiskaltes Wasser und große Tücher, um seinen Fieber zu senken. Wir sollten das Fenster in diesem Zimmer öffnen und darauf achten, dass wir auf keinen Fall mit seinem Husten in Kontakt geraten. Ich habe eine Maske und kann mich so gut es geht um ihn kümmern, aber ihr solltet besser Abstand halten.", wies ich sie an, „Sämtliche Gläser, Gabel oder Löffel, mit denen er in Kontakt gerät, müssen minutenlang ausgekocht werden, Mathilda. Wir müssen sehr penibel umgehen. Der Rest hält sich unbedingt fern, sonst riskiert ihr es euch anzustecken."

Ich hörte das Getuschel der anderen, aber wenigstens taten sie, was ich ihnen sagte und gingen aus dem Raum. Auch Mathilda, die neben mir saß, stand auf, öffnete noch das Fenster, ehe sie ging, und wollte alles besorgen, um das ich sie gebeten hatte.
Ich wandte mich wieder zu Nathan um und nahm ihm das feuchte Tuch wieder von der Stirn.

„Und du nicht?", fragte Rosalie plötzlich hinter mir mit einem verbissenen Unterton, „Du steckst dich also nicht an, ja?"

Ich hielt in der Bewegung inne und drehte mich dann zu ihr um. Sie stand mit verschränkten Armen am Türrahmen und sah mich verärgert an. Ich stieß die Luft aus. Meine Nerven waren ohnehin bereits zum Zerreißen gespannt. Das letzte, was ich gebrauchen konnte, war Rosalies Eifersucht.

Ella - Die Stille nach dem SturmWhere stories live. Discover now