9. Der leise Held

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Am nächsten Morgen stand ich mit neu gewonnener Energie auf. Ich fühlte mich um einiges gefasster.

Da Mr Kurt am Abend nicht gekommen war, hatte ich genug Zeit für mich selbst und konnte in Ruhe nachdenken. Ich hatte vorgenommen mir wegen des Vorfalls keine Gedanken mehr zu machen. Ich würde nicht in Selbstmitleid baden, sondern mich wichtigeren Dingen zuwenden. In meinem Kopf hatte sich ein Plan festgesetzt, den ich geschworen hatte, umzusetzen.

Ich zog mich um und ging in die Küche, wo Mathilda bereits das Frühstück vorbereitete. Die anderen Mädchen kamen wenig später dazu. Erst als das Frühstück fertig war, kam Peter verschlafen in die Küche. Wir aßen gemeinsam, als mitten in Hildes und Maries Diskussion, ob Kleider mit Tüll hübsch waren oder nicht, die Tür klopfte.

Nicht die Eingangstür.

Die Hintertür der Küche.

Überrascht stand Peter auf und trat an die Tür. Alle anderen am Tisch standen ebenfalls auf. Verwirrt sah ich ihnen dabei zu, wie sie eilig in den Flur gingen und sich versteckten. „Ella!",zischte Mathilda wütend, als ich nicht reagierte. Peter wartete mit der Hand an der Türklinke, bis auch ich aufgestanden und aus der Küche gegangen war. Mathilda schloss die Tür hinter mir, so dass wir alle versammelt im Flur standen.

„Was ist denn los?", fragte ich verwirrt.

„Wenn ein Herr an der Tür ist, soll er euch nicht ohne ein Tuch sehen.", sagte Mathilda streng, „Schau dich doch an, du trägst nur ein Morgenmantel."

Ich unterdrückte den plötzlichen Drang zu lachen. War das ihr Ernst?

Ich ließ mir ein Tuch in die Hand drücken und sah den anderen fassungslos dabei zu, wie sie sich die Tücher über die Köpfe banden.

„Mr Kurt hat uns doch ständig ohne Schleier gesehen.", warf ich ein, „Oder Peter."

„Peter ist verheiratet und könnte dein Vater sein.", widersprach Mathilda entrüstet, „Und Mr Kurt ist der Hausherr. Da ist eine Heirat genauso ausgeschlossen."

Neben mir verkrampfte sich Rosalie kaum merklich.

Ich verdrehte nur die Augen und warf mir das Tuch über. Sofort fühlte ich mich wieder wie die Omas mit der berühmten Keksdose, die leider für Nähzeug missbraucht wurde.

Als sich die Küchentür in den Flur öffnete, sahen alle gespannt auf Peter. „An der Tür ist der Sekretär von Mr Kurt."

„Schmidt?", fragte ich überrascht.

Er nickte. „Er sagt etwas von einer Einladung."

Plötzlich waren alle ganz aufmerksam und hellhörig. Mathilda eilte ohne ein Wort an Peter vorbei. Die anderen Mädchen warteten nicht und folgten ihr auf dem Absatz. Da ich ebenfalls neugierig war, trat ich mit dem alleingelassenen Peter wieder in die Küche.

Schmidt war nicht eingetreten. Er stand vor der offenen Tür und hielt in den zusammengefalteten Händen einen Brief.

„Guten Morgen, Mr Schmidt.", begrüßte ihn Mathilda am Türrahmen.

Mr Schmidt? Ich verzog das Gesicht. Das klang furchtbar falsch. Es tat ja schon fast weh in den Ohren.

„Guten Morgen, die Damen." Er verbeugte sich - ganz der höfliche Sekretär. Mathilda und die Mädchen knicksten damenhaft. Von mir würde er sowas ganz sicher nicht sehen.

„Hast du mich vermisst, Schmidt?", fragte ich stattdessen zuckersüß.

Er sah mich an, als hätte ich ihn beleidigt. „Gewiss nicht."

Ella - Die Stille nach dem SturmWhere stories live. Discover now