ZWEI - Al, Mommy und hässliche Rehaugen

10.6K 531 263
                                    


ZWEI

Al, Mommy und hässliche Rehaugen

Vollkommen durcheinander parke ich vor dem Kindergarten. Meine Schrottkiste kommt schlitternd zum Stehen, weshalb es mich nicht wundern würde, wenn ich schwarze Bremsspuren hinterlassen habe. Ich habe keinen blassen Schimmer, wie ich diese Fahrt gerade überlebt habe. Wahrscheinlich liegt es daran, dass gerade nicht sehr viel Verkehr war und ich so einfach durch die Straßen rasen konnte. Mein Tacho ist durchgedreht, allerdings frage ich mich, woran das nun lag: An meiner Angst, was ich gerade getan habe oder an der Tatsache, dass ich mich beeilen musste, um Al abzuholen.

Ich beschließe, den ersten Gedanken fürs erste zur Seite zu schieben, um Al während der Fahrt keine Angst zu machen. Möglicherweise wäre es sinnvoll, sich jetzt damit zu befassen, doch mir bleibt gerade nichts anderes übrig. Im Probleme ignorieren bin ich wirklich ein Profi.

Zitternd laufe ich mit schnellen Schritten in das Gebäude und begebe mich zur Tür, die zu Als Gruppe führt. Alberts Bild, das ganz links oben hängt, springt mir jedes Mal aufs Neue ins Auge, weil er dort sehr breit grinst. Seine braunen großen Rehaugen sind weit aufgerissen.

Lächelnd öffne ich die Tür, doch mein Lächeln vergeht schnell, als ich hereinkomme.

Seinen Kopf in die Hände gestützt starrt Al die Wand an, während Miss Parker, seine Erzieherin, beruhigend auf ihn einredet.

„Al", sage ich ruhig, muss mir jedoch die Tränen zurückhalten. Dieser Anblick bricht mir das Herz. Er ist der einzige, der noch hier ist und darauf wartet, abgeholt zu werden. Ich weiß noch ganz genau, wie ich früher im Kindergarten auf Mom gewartet habe. Glücklicherweise war ich immer einer der ersten, die abgeholt wurden, doch nachdem sie gestorben ist, habe ich jeden Tag sehnsüchtig auf sie gewartet. Es war einfach nicht mehr das selbe, nun von Dad abgeholt zu werden – nein – das war schon immer Moms Aufgabe gewesen, und ich werde den allerersten Tag, an dem sie mich nicht abgeholt hat, niemals vergessen.

„Liz?", fragte ich die rothaarige Frau, die meine Erzieherin war. Sie war sehr groß, weshalb ich mich immer ziemlich strecken musste, um sie anzusehen. Ihre strahlend weißen Zähne haben mich immer geblendet. Jedoch liebte ich ihr Lächeln, denn damit konnte sie mich immer beruhigen, wenn Mommy ein bisschen zu spät kam. Besser als jedes Kuscheltier.

„Ja, Nora?", antwortete sie mir, während sie die Becher aufräumte, die die anderen Kinder vergessen hatten wegzuräumen. Auch meinen Becher, den ich vor zwei Jahren mit Wachsmalstiften bemalt hatte, räumte sie in die Spülmaschine, die anschließend ratternd anfing, das Geschirr zu spülen. Eigentlich sollte ich dieses Geräusch jetzt schon zuhause hören und Mommy dabei zusehen, wie sie mein Mittagessen wegräumt – und nicht Liz. Traurig schaute ich sie an, meine roten Augen schon leicht angeschwollen.

„Wann kommt endlich meine Mommy? So spät war sie noch nie oder?", fragte ich leise. Zitternd wischte ich mir die Tränen weg, die gerade an meinen Wangen entlang liefen. Ich wusste, dass Mommy manchmal später kam, wenn sie noch etwas länger arbeiten musste, aber diesmal war keiner mehr da und ich war die einzige, die noch auf ihre Mommy wartete.

„Es ist bestimmt schon sehr sehr sehr viel Zeit vergangen, Liz – oder? Wann kommt sie denn?", jammerte ich erneut. Ich war noch nie die letzte gewesen. Damals verstand ich nicht, warum Liz gestottert hat und nicht wusste, was sie sagen sollte, doch heute kann ich sie verstehen. Wie soll man einem fünfjährigen Mädchen beibringen, dass die Mutter nicht wieder kommen wird? Sie nie wieder abholen wird? Nie wieder für sie kochen wird? Sie nie wieder in den Schlaf singen wird? Eigentlich war das die Aufgabe des Vaters, doch Liz konnte mich nicht anlügen und sagen, meine Mommy würde gleich kommen.  Zumindest einen Teil der Wahrheit musste sie mir einprägen.

Blazing FireWhere stories live. Discover now