NEUNZEHN - Schmelzendes Metall, Mentoren und Einzug

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NEUNZEHN

Schmelzendes Metall, Mentoren und Einzug

Die Tränen laufen mir in Sturzbächen an den Wangen herunter, als ich meinen Koffer auf den Beifahrersitz hieve und mich auf den Fahrersitz setze. Für einen kurzen Augenblick verharre ich in dieser Position – die Hände fest um das Lenkrad geklammert, sodass meine Knöchel hervortreten, den Blick starr geradeaus. Schon immer habe ich Menschen für ihr Talent, leise zu weinen, bewundert, weil ich immer die seltsamsten Geräusche von mir gebe, wenn die Tränen fließen. Allerdings bemerke ich nun, dass auch ich leise weinen kann. Nach all den Tränen, die ich heute vergossen habe, habe ich keine Kraft mehr, um mir die Seele aus dem Leib zu schluchzen. Mittlerweile weine ich einfach leise. Kraftlos starre ich weiterhin geradeaus und zwinge mich, den Schlüssel umzudrehen. Laut heult der Motor auf und ich wünschte mir, ich müsste jetzt nicht losfahren. Ich will das nicht – aber ich muss. Es führt kein Weg daran vorbei.

Tief einatmend fahre ich aus meiner Parklücke und schlage den Weg zum See ein. Dad und ich haben vor ein paar Tagen abgemacht, dass ich mit dem Auto zum See fahren und er es abholen wird. Den Schlüssel werde ich verstecken, damit wirklich nur Dad ihn finden wird.

Mit nassen Wangen steige ich aus dem Auto, verstecke den Schlüssel etwas weiter entfernt und hebe schließlich den Koffer aus dem Wagen. Meinen Freunden habe ich nicht gesagt, dass wir keinen Kontakt haben können, weil ich das einfach nichts übers Herz gebracht habe. Glücklicherweise übernimmt das Dad für mich, sonst wäre ich nämlich gar nicht von Zuhause weggekommen.

Da der Weg zum See etwas uneben ist, ist es nicht gerade einfach, den Koffer zum Wasser zu rollen. Wie bescheuert ist das Ganze eigentlich? Ich tauche mit einem verdammten Koffer in einem See unter. Bis jetzt habe ich nur ein Paar entdeckt, das mehere hundert Meter von mir entfernt am Ufer sitzt und ein Picknick zu veranstalten scheint. Wow, bei dem Wetter komme ich natürlich auch immer auf die Idee, ein Picknick zu machen. Nicht.

Hoffentlich sehen sie mich aus dieser Ferne nicht. Mit einem mulmigen Gefühl watschle ich in das Wasser und versuche vergebens, den Koffer über Wasser zu halten. Wie bekloppt muss das eigentlich aussehen? So schnell wie möglich bewege ich mich voran, damit die Menschen mich nicht entdecken und ich untertauchen kann, wenn das Wasser bis zu meiner Schulter steigt. Leider ist das mit dem Koffer schwieriger als gedacht, weswegen ich länger brauche als geplant. Allerdings bin ich trotzdem rasch fast mit dem ganzen Körper unter Wasser und schaue herab. Am liebsten würde ich noch eine Weile verharren, bis ich diesen Wort für einige Monate nicht mehr sehen werde, aber ich muss mich beeilen, bevor mich jemand entdeckt. Ein letztes Mal sehe ich mich um, versuche mir den See und diese wunderschöne Umgebung einzuprägen, und hole tief Luft. Der Koffer wird langsam zu schwer, er sinkt gleich zum Grund, weshalb ich ihn mit letzter Kraft festhalte und schnell untertauche. Unerwartet bin ich wieder von diesem faszinierendem Blau umgeben, welches mich nun zum dritten Mal in den Bann zieht und fasziniert, sodass ich ein wenig länger als beabsichtigt unter Wasser bleibe. Einige Sekunden später komme ich wieder an die Oberfläche und hole tief Luft. Bevor ich die Chance habe, mich umzusehen, muss ich mit dem schweren Koffer aus dem Wasser raus, bevor mir das Wasser wortwörtlich die Haut zerfetzt. Während ich mit aller Kraft versuche, den Koffer aus dem Wasser zu ziehen, muss ich mich anstrengen, damit das Wasser nicht die Überhand gewinnt. Diesen Konflikt zwischen meinem Feuer und dem Wasser zu überwinden wird sich wohl viel schwieriger gestalten als ich dachte. Mit einem Stöhnen hieve ich den Koffer aus dem Wasser und lasse mich erst einmal auf den harten Boden sinken. Noch bevor ich mich wieder aufrichten kann, höre ich, wie jemand neben mir auftaucht.

„Bist wohl nicht sehr stark, was?", höre ich eine Stimme, die ich nicht eindeutig zuordnen kann. Ruckartig sehe ich auf und erkenne Nicholas, der mich breit angrinst. Neben ihm steht ebenfalls ein Koffer.

Blazing FireWhere stories live. Discover now