*(70)-D*

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Familie ist die Idee, dass es Menschen auf dieser Erde gibt, zu denen man eine untrennbare Verbindung hat. Die Idee, von Geburt an bei Leuten zu sein, die einem ähnlich sind. Die einen kennen. Die Erfahrungen teilen und die bei einem bleiben, ganz egal, wie schwer es mal wird.

Es ist die Idee, immer jemanden zu haben, der für einen da ist. Die Idee, jemandem vertrauen zu können. Die Idee, nicht allein sein zu müssen.

Diese Idee ist erbärmlich. Und, wenn man so verzweifelt ist, an sie zu glauben, wird man enttäuscht.

Das hatte ich schon gewusst, bevor Seb sich als nutzlos herausgestellt hatte. Seb und seine Familie.

Er machte sich lächerlich mit allem, was er im Namen seiner Familie sagte und tat.

Irgendwann würde er das selbst merken. Spätestens, wenn die Idee für ihn nicht mehr funktionierte. Wenn der Schein verpuffte und er sah, wie hässlich und verrottet alles darunter war.

Sowie in meinen 'Familien' und an den Orten, die sie 'Zuhause' genannt hatten.

Ich atmete tief durch und lehnte meine Stirn an Marlons Schulter. „Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich kenne niemanden, der mir helfen kann. Nur Seb..."

Seine Worte hallten in meinem Kopf wieder. „Du musst nur bereit sein, Hilfe anzunehmen. Auch, wenn es von einer Familie ist, die du nicht kennst."

Ohne meinen Kopf von Marlon zu lösen, suchte ich nach Markus' Nummer und drückte auf das Anrufsymbol.

Neben Seb war er der einzige, der so gewirkt hatte, als hätte er Ahnung von diesem ganzen übernatürlichen Scheißdreck. Ich wusste nicht woher er all das wusste, aber ich wusste, dass er es tat. Und im Gegensatz zu Seb, hatte er einen verdammt guten Grund, kreativ zu werden, um alle Regeln zu brechen, die uns davon abhielten, Marlon zu helfen. Er wollte seinen Bruder kennenlernen. Das konnte er nur, wenn er am Leben war. Am Leben und ein Mensch.

Ich hoffte, ja ich war bereit zu beten, dass Marlon in der Lage sein würde, mich dafür zu verfluchen, dass ich mich an Markus gewandt hatte. Ihm zu vertrauen war in diesem Moment alles, was mir übrigblieb.

Fuck, ich hasste es, mich so hilflos zu fühlen. Nicht zu wissen, was passierte und wie ich etwas daran ändern konnte.

Am meisten hasste ich es, dass nicht mehr nur ich unter meiner Ahnungslosigkeit litt. Marlons Leben hing davon ab, die richtigen Antworten zu finden. Und ich suchte sie ausgerechnet bei der Person, der er so sehr misstraute.

Ich musste Markus zwei Mal anrufen, bis er abhob.

„Damian?", fragte er verschlafen. „Hast du mich nicht blockiert?"

„Ich brauche Hilfe. Marlon braucht Hilfe. Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll und du bist der einzige, der mir helfen kann."

„Wow, wow, wow! Ganz langsam. Atme erstmal richtig durch."

Ich wollte ihm sagen, dass ich keine Zeit zum Atmen hatte. Dass er sich seine Beruhigung in den Arsch schieben sollte und mir Antworten liefern. Aber ich erinnerte mich an Marlon. An seine Versuche, mir beizubringen, was ich tun konnte, wenn meine Anspannung zu groß wurde. Er hatte mir erklärt, dass man in diesen Momenten gar nicht nachdenken konnte.

Mit ruhigen, bewussten Atemzügen anzufangen, hatte in seiner Nähe immer geholfen, etwas runterzukommen. Sein Geruch hatte geholfen. Er half immer noch.

„Okay", sagte Markus, nach mehreren tiefen Atemzügen. „Jetzt erzähl mir was los ist."

„Ich weiß es selbst nicht. Marlon verwandelt sich. Ich habe Seb angerufen, aber er meinte, wir können nichts für ihn tun. Entweder er schafft die Verwandlung oder er stirbt. Aber-"

„Wo seid ihr gerade?", fragte Markus. Im Hintergrund hörte ich Rascheln und Schritte.

„An einer Bank zwischen der Musikhalle und der Stadt."

„Ich höre Marlon nicht. Ist er bewusstlos?"

Ich hob meinen Kopf von seiner Schulter, um ihn zu mustern, obwohl ich die Antwort kannte. „Ja. Die Verwandlung hat mitten drin aufgehört. Er hat Krallen, kürzere Gliedmaßen und eine seiner Hände sieht schon fast nach einer Tatze aus. Wenn ihn so jemand sieht-"

„Ganz ruhig. Ihn wird niemand sehen. Hat einer von euch eine Jacke?"

„Nein."

Er fluchte leise, bevor er weiterredete: „Dann machen wir es anders. Wenn jemand euch entgegenkommt, tu so als würdet ihr rumknutschen. Die meisten finden sowas unangenehm und schauen von selbst weg. Kannst du ihn tragen?"

„Ja."

„Dann lauf weiter Richtung Stadt. Vor den Wohnhäusern kommt eine große Hundewiese und rechts davon ist ein Parkplatz. Da treffen wir uns. Ich hole euch ab."

„Okay." 

Ich dachte nicht daran, ihn zu fragen, wie es dann weitergehen sollte. Es kam mir so bedeutungslos vor. Markus wirkte so als hätte er einen Plan und ich war so erleichtert darüber, etwas tun zu können, dass ich seinen Anweisungen blind folgte.

Ich legte auf, verstaute mein Handy in meiner Hosentasche, nahm Marlon prinzessinnenstyle hoch und trug ihn über den Weg.

Bis auf ein anderes Pärchen, das viel zu sehr damit beschäftigt war, zu küssen und zu laufen, kam uns niemand entgegen. Es war mitten in der Nacht. Wären wir nicht auf dieser Party gewesen, lägen wir gerade im Bett, am Kuscheln, am Schlafen, vielleicht am Grabschen.

Fuck, wie sehr wollte ich das gerade. In seinen Armen alles vergessen, mich festhalten lassen und wissen, dass ich sicher war. Dass ich zuhause war.

Stattdessen lief ich über einen dunklen Weg, mit einer stinkenden Hundewiese zum Ziel.

Obwohl gerade mal ein paar Minuten vergangen waren, stand Markus Auto bereits auf dem Parkplatz. Er hatte das Standlicht an und beleuchtete die Wiese soweit, dass er mich sehen konnte, als ich näherkam. Sobald er mich erkannte, stieg er aus und öffnete die Tür zu seinem Rücksitz.

„Setz dich am besten zu ihm und halt ihn weiter fest. Wenn er aufwacht, hilft ihm das vielleicht."

Er knallte die Tür hinter uns zu, stieg auf der Fahrerseite ein und überprüfte unsere Position durch einen Blick nach hinten.

„Was machen wir jetzt?", fragte ich ihn.

Markus war noch damit beschäftigt den Anblick seines Bruders zu verarbeiten. Er schluckte, bevor er mich ansah und sein Blick sich klärte. „Ich kenne jemanden. Er ist sowas wie ein Experte für... alles Mögliche. Wenn wir Glück haben, kann er noch was machen. Wenn nicht, haben wir es zumindest versucht."

„Fahr los", was das einzige, das ich sagen konnte.

Es interessierte mich nicht, woher Markus diesen Experten kannte und was es überhaupt für ein Experte war. Vielleicht brauchte ich diese Unwissenheit, um meine Hoffnung, dass er tatsächlich helfen konnte, begründen zu können. Ich brauchte irgendetwas, das sich nach einem Funken Hoffnung anfühlte.


wild (bxb)Where stories live. Discover now