*(23) Aufwachen*

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Wenn dein Leben ein Alptraum ist, warum wachst du dann nicht auf?

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„Irgendwie habe ich mir deine Tante ganz anders vorgesellt", meinte Damian, während er durch mein Zimmer lief und jede Ecke inspizierte.

Ich kickte ein paar herumliegende Klamotten unter mein Bett. Er tat so als bemerkte er es nicht.

„Wie hast du sie dir vorgestellt?"

„Irgendwie dachte ich, sie ist eine verbitterte alte Ziege."

„Mit Hörnern?"

Ich stellte mich zu ihm, vor meine Basketball-Wand, an der ein paar Poster und Medaillen hingen.

„Und Bart", sagte er todernst.

Die Vorstellung meiner Tante mit Hörnern und Bart war witzig. Dennoch half sie nicht, mich von meinen Gedanken daran, was unten passiert war, abzulenken.

Hätten wir uns geküsst?

Wäre es gut gewesen?

Was hätte das bedeutet?

Was bedeutete es?

Finn war der einzige Junge, den ich bisher geküsst hatte. Betrunken. Auf einer Party.

Mit Damian alleine im Keller zu stehen, ihm meinen Körper zu präsentieren und ihn zu fragen, ob ich ihn küssen durfte, war viel intimer gewesen. So viel intimer, dass ich es jetzt kaum schaffte, ihm in die Augen zu sehen.

„Wann erzählst du mir eigentlich deine tragische Lebensgeschichte?", fragte Damian mich, schnippte eine Goldmedaille an die Wand und ging weiter zu meinem Bücherregal.

Weder antwortete ich ihm, noch lief ich ihm hinterher.

Er drehte sich zu mir, zog die Augenbrauen hoch und fragte: „Fettnäpfchen?"

„Normalerweise fragen die Leute immer, warum ich bei meiner Tante wohne. Wenn ich sage, dass meine Eltern tot sind, sprechen sie ihr Beileid aus und wechseln das Thema. Keiner will wirklich die Geschichte hören. Ich weiß nicht mal, ob sie erzählen könnte."

Damian zog die Augenbrauen zusammen. „Hast du noch nie darüber geredet?"

„Nur in der Therapie."

„Mh", machte er, wie so oft. Jedes Mal bedeutete es etwas Anderes. Diesmal war es der Ausdruck seines Unmutes. „Willst du meinen Therapiewerdegang hören?"

Ich nickte wortlos.

„Klein Damian wird zum Psychiater geschickt, weil er zu unruhig ist. Der Psychiater verschreibt ihm Pillen. Die Pillen stellen ihn ruhig. Ende."

„Wow", sagte ich trocken. „Echt jetzt?"

Er nickte. „Die im Heim waren komplett überfordert. War nicht unbedingt die Schuld der Erzieher, sondern eher die des Systems. Die haben einige von uns völlig zugedröhnt. Ein paar haben davon so viel gekotzt, dass es wieder abgesetzt wurde. Hat ja Arbeit gemacht, die Kotze wegzuwischen. Ich bin erst von dem Zeug runtergekommen, als ich bei meiner Pflegefamilie war. Es war krass, weil meine Pflegemutter insgesamt fünf Kinder bei sich hatte und trotzdem die Zeit gefunden hat zu hinterfragen, was sie mir da jeden Morgen in den Mund stopfen soll."

„Wurde es dann abgesetzt?"

Damian nickte. „Fun fact: als Kind soll man eigentlich Impulskontrolle lernen. Ich war so zugeballert, dass ich quasi gar keine Impulse hatte."

„Und deshalb konntest du nicht lernen, damit umzugehen?"

„Genau."

„Wow", wiederholte ich.

wild (bxb)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt