Geführt

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Sie verließen den Wald schnell und gerieten auf eine gewaltige Einöde. Was man durch das Schneegestöber erkennen konnte, war komplett mit Schnee und Eis bedeckt. Hier lebte nichts und niemand, kein Baum wuchs und kein Tier konnte in dieser Eiswüste überleben. Dementsprechend machte sich Lilith keine Sorgen, dass sie von einem wilden Tier überfallen werden konnten. Wo es keine Beute gab, gab es keine Jäger.
Die Nacht war lang und nach einigen Stunden Laufens taten ihr die Füße weh, sodass sie sich für eine Weile hinsetzte. Das Lichterwesen wartete dieses Mal sogar die paar Minuten ab, in denen Lilith sich ausruhte.

Jedoch beendeten sie die Pause für ihren Geschmack viel zu früh und führten ihren Weg fort. In welche Himmelsrichtung sie wanderten, war schwer zu sagen, da es immer noch dunkel war und der Schneefall nicht nachließ.

Und obwohl Lilith nicht wirklich wusste, wohin die Reise sie führen würde, vertraute sie dem Lichterwesen. Es führte sie durch die Nacht und war wörtlich ihr einziges Licht in der Dunkelheit.

Durch den Lichtschein und die melodischen Laute konnte Lilith sich immer gut orientieren, um ihren Freund oder ihre Freundin nicht zu verlieren und so schafften sie es, den Fußmarsch die Nacht über durchzuhalten.
Viele Worte wechselten sie anfangs nicht. Wie sollten sie auch, wenn nur einer der Beiden Stimmbänder zum Sprechen besaß. Trotzdem redete Lilith mit dem Wesen. Es waren im ersten Moment sehr einseitige Unterhaltungen, doch je länger sie mit dem Wesen reiste, desto mehr verstand Lilith das Verhalten und die Emotionen des Wesens, welche es durch gesummte Melodien und die glöckchenähnlichen Geräusche auszudrücken vermochte. Eine besonders schöne Art, miteinander zu kommunizieren, wie Lilith fand.

Irgendwann ließ der Schneefall leicht nach und die Sicht verbesserte sich ein Wenig. Der Morgen kam schnell und Lilith war ihre Erleichterung bestimmt anzusehen, dass der Sturm für's Erste nachgelassen hatte.

Ihr Weg führte sie weiter aus der Einöde hinaus und durch einige Waldstücke, ehe gegen Mittag das Wesen anfing, wild zu klingeln und hektische Melodien zu summen. Es schwebte den Hügel hinauf, den Lilith gerade bestieg und wartete oben.

Als sie schnaufend oben angekommen war, erbot sich ihr ein beeindruckender und Respekt einflößender Anblick. Unten, einige Meter entfernt vom Hang des Hügels, ragten hohe Steinmauern aus dem Boden und umringten eine große Stadt, welche um einen kleinen Berg erbaut wurde, rundherum um das beeindruckende Schloss, das gewaltig über der Stadt thronte. Der Berg war nicht besonders hoch, gab jedoch perfekten Platz für Gebäude, Wehranlagen und Gärten.

Das Wesen klingelte und blieb auf der Anhöhe, als Lilith Anstalten machte, sich auf den Weg zum Tor zu machen.

"Kommst du nicht mit?" Fragte Lilith verwirrt.

Das Wesen summte nur eine traurige Melodie und blieb, wo es war. Lilith verstand, anscheinend konnte oder wollte es sie nur bis hierhin bringen und nicht weiter helfen.

Sie nickte nur, trat von einem Fuß auf den Anderen und schaute beklommen vor sich hin. Nach einigen Sekunden hob Lilith ihren Kopf wieder und schaute seinen Freund wieder an.

"Dann wird es wohl Zeit, sich zu verabschieden... Du hast mich hierher geführt... Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll."

Lilith schaute das Wesen an und lächelte traurig. Dieses flog kurz auf und schwebte in einer flinken Bewegung von vorne durch ihren Körper hindurch, dann löste es sich wieder in einzelne, goldene Punkte auf, welche verblassten und ganz verschwanden, zusammen mit den schönen Klängen.

"Bis zu unserem nächsten Treffen." Flüsterte sie in die Stille hinein.

Eigentlich hätte Lilith traurig sein sollen, doch hatte die Berührung mit dem Wesen eine Entschlossenheit in ihr zurückgelassen und Mut gemacht, den Weg, der sich ihr eröffnete, ohne Furcht zu gehen.
Ob das Wesen nicht wollte oder nicht konnte, blieb ein Rätsel. Sie hätte so viele Vermutungen aufstellen und weiter Zeit verschwenden können und wäre vielleicht nicht mal zu einer Lösung gekommen. Daher verwarf sie den Gedanken und setzte sich in Bewegung.

Melodie des ErwachensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt