Der Pfad

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In den Tagen der Vorbereitungen passierte im Kloster erstaunlich wenig. Den Umständen entsprechend blieb der Alltag des Lernens ungestört und man hätte meinen können, es gäbe keinen Krieg. Doch er wartete dort draußen, wie eine Raubkatze, die zum Sprung ansetzte. Unbekannte Feinde hatten ihn angefangen und Rabea würde ihn nun weiterführen. Vor einigen Tagen hätte Liliths Herz vor Aufregung über diese Nachricht geklopft. Ja, sie hatte es kaum erwarten können, vom Sieg der Armee zu hören. Dass die Gefahr gebannt würde und sie alle wieder zu ihrem Alltag zurückkehren könnten. Doch nun war alles anders gekommen. Sie hatte Coran dem Schicksal des Soldatenseins überlassen. Jede Nacht spielte sich die Szene aus der Sternennacht in Liliths Träumen ab. Nur dieses Mal stand Coran nicht bei ihr. Nein, er lag auf der Bahre neben seinen gefallenen Kameraden.

Pen las voller Trauer das Gedicht vor, die Bahre wurde angezündet und Lilith konnte nichts dagegen tun. Gefangen in der Erkenntnis, dass dies sein Schicksal sein könnte.

Ein Schicksal, das hätte verhindert werden können. Rabea hätte bestimmt eine andere Lösung gefunden. Lilith dachte über all das und noch viel mehr nach, während sie in der Bibliothek saß und auf die Schriften starrte. Doch nichts, von dem sie dort las, nahm sie auf. Die Gedanken um das Geschehene und die Schuld bildeten einen Schutzschild, der alles andere abblockte. Daher schaute Lilith lieber der Kerze beim Herunterbrennen an, als etwas Produktives zu machen. Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus und verließ ihren Arbeitsplatz. Meister Tyvel schaute nur kurz von seinem Schreibtisch auf und warf einen besorgten Blick zu ihr hinüber. Kein Wort verließ seinen Mund, doch seine Gesichtszüge wiesen darauf hin, dass er nachdachte. Worüber, würde Lilith bestimmt nicht herausfinden. Was sollte sie jetzt tun? Wohin sollte sie gehen?

Vielleicht war jemand im Hof, der mit ihr reden wollte. Pen, Taric oder vielleicht auch Teddy.

Als Lilith die Türschwelle zum Hof überschritt, schaute Pen von ihrem Buch auf und winkte ihr einladend zu. Taric kam gerade aus dem gegenüberliegenden Gang in den Hof und schlenderte zu dem Mädchen herüber. Lilith beschloss, es ihm gleichzutun, auch wenn 'Schlendern' eher der falsche Begriff war. Noch immer waren ihre Finger wund von dem Holz der Krücken und es wurde nicht weniger anstrengend, sich so fortzubewegen.

Kaum hatte sie sich hingesetzt, begann Pen auch schon, zu reden.

"Ihr glaubt gar nicht, was ich gefunden habe!", verkündete sie.

"Ein Buch", stellte Taric die ernüchternde Tatsache fest.

Pen winkte ab. "Nicht irgendein Buch. Heilkunst und Erhaltungszauber der Weißen", las sie vor.

"Ein weiteres, ödes Buch über Pflanzen und Kräuter", murmelte Taric.

"Was macht es denn besonders?" Fragte Lilith, die Tarics Verhalten eher als Niftelei einschätzte.

"In alten Legenden gab es einmal ein Volk, das war so schlau, dass sie selbst Pflanzen und Kräuter mit ihren Zaubern hergestellt haben." Die Brust des Mädchens bebte vor Aufregung.

"Und genau damit kann ich diese Pflanzen finden!"

"Es liegt tiefer Schnee draußen, wie willst du so etwas, wie Kräuter dort finden?", brachte der Junge den allerdings sehr treffenden Einwand.

"Lasst mich nur machen." Das Mädchen stand auf mit einem Feuer der Selbstsicherheit in ihren Augen. "Wir sehen uns in zehn Minuten draußen."

Dann rannte sie hinaus, in Richtung ihres Zimmers.

Taric und Lilith tauschten verwunderte Blicke aus. "Sie kann nicht allein gehen", bemerkte sie.

"Stimme zu."

Das war der Impuls, dass sie beide aufstanden, um sich ihre Mäntel aus den Zimmern zu holen. Wie immer war Ruby nicht da, als Lilith kam und ihren Mantel holte. Wahrscheinlich wieder trainieren. Es wäre aber bestimmt auch komisch, wenn sie ständig da wäre. So, wie das Mädchen sich Lilith gegenüber verhielt. Sie würden vielleicht nie voneinander lernen.

Melodie des ErwachensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt