Besen und Schwerter

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Wie schwer war es schon, sich vor Augen zu führen, was man selbst konnte. Ehrlich mit sich selbst zu sein und seine Stärken und Schwächen zu kennen, mochte leicht erscheinen, doch wurde Lilith eines Besseren belehrt. Als sie am Morgen in den Hof zum Frühstück trat, hatte sie noch immer keinen Einfall, was sie konnte.
Natürlich, sie wusste, dass sie die Violine spielen konnte, aber das wollte sie eher für sich behalten. Außerdem war das wohl nichts, was einem wohl viel bringen würde. Am Ende würde Lilith noch etwas vorspielen müssen und dieser Gedanke bereitete ihr Unbehagen. Wenn jeder ihr zuschauen und zuhören und nur darauf warten würde, dass sie einen Fehler machte, würde sie auf alle Fälle Fehler machen. Und diese konnten Lilith durchaus gestohlen bleiben. Nach dem Frühstück, das sich in seiner Vielfalt auf Beeren, Wurzeln und Wildfleisch reduzierte, traten die Meister ein, vier an der Zahl, zu denen sich die verschiedenen Schüler begaben und sich dort als Grüppchen sammelten.

Neben dem grimmig dreinschauenden Meister Barth und dem alten Meister Tyvel traten dort noch zwei weitere Personen vor. Eine junge Frau, schlank und drahtig, mit kurzen, blonden Haaren, stand neben den anderen Meistern und ließ ihren Blick kritisch über die Leute wandern. Sie war mit Abstand die Person mit den Meisten Schülern.

"Das ist Meisterin Sisari, der Tiger!", flüsterte Pen, als Lilith neben sie trat. "Sie ist meine Meisterin!", sagte sie stolz und ging hinüber zu dieser, zu einem Dutzend anderer Schüler. Neben Meisterin Sisari stand noch ein weiterer Mann, tuschelte mit ihr und ließ seinen Blick des Öfteren schweifen, um danach mit seiner Gesprächspartnerin weiterzuflüstern.
Er war braun gebrannt und hatte wellige, schwarze Haare, die ihm an den Schultern hinab fielen. Dazu kamen quer stehende Augen, ähnlich wie bei Ruby und Taric. Sie alle hatten östliche Merkmale in ihrem Aussehen. Den Namen dieses Meister kannte Lilith nicht, aber den Jungen, der gerade zu diesem trat und sich verbeugte, kannte sie. Es war Sennec, der Sennec, der gestern Abend über die Eroberung von Arborea gefaselt hatte. Außerdem standen bei ihm Taric, der schmale Junge mit der tiefen Stimme und seine Freundin Sinah, welche sich die ganze Zeit über die Hände hielten.

"Kommst du, Novizin?", rief Tyvel, sich auf seinen Besen stützend. Lilith schluckte und trat zu ihm heran. Die Blicke aller anderen und das Getuschel brannten ihr auf der Haut und in den Ohren. "Der hat doch nie Schüler!", flüsterte ein Junge in der Menge etwas zu laut.

Als Lilith nun bei ihrem Lehrer stand, erhob Meister Barth das Wort. Seine beiden Schüler Ruby und Coran standen brav hinter ihm, jeweils die Arme hinter dem Rücken verschränkt und mit steinerner Miene. Mit Ruby hatte sie weder gestern Abend, noch heute Morgen ein Wort gewechselt. Ihre Blicke trafen sich und Lilith schaute demonstrativ weg. Wenn Ruby einfiel, sie wie Luft zu behandeln, dann konnte sie das eintausend mal besser!

"Letzte Nacht war es ganz besonders kalt. Daher bleiben die Tore für die Novizen geschlossen! Nur höhere Schüler oder Meister haben die Erlaubnis, hinaus zu gehen." Er nickte und trat zurück. Zu Lilith hatte er kein Wort verloren, was sie irgendwie zugleich erleichtert und stutzig werden ließ. Sie beschloss, es lieber hinzunehmen und sich zu freuen, dass die allgemeine Aufmerksamkeit nicht auf ihr lag.

Meisterin Sisari und der unbekannte Meister stapften nun mit ihren Schülern in verschiedene Richtungen davon, nur Tyvel und Barth blieben im Hof. Letzterer beanspruchte mit seinen Schülern die Mitte des Hofes, Tyvel ging hinüber, in die andere Ecke neben der Feuerstelle. Dort setzte er sich auf die Bank, auf der sie gestern gemeinsam gesessen hatten und schaute Lilith an, die nun etwas verloren vor ihm stand.

"Nun, Novizin. Ich hatte dir gestern eine Aufgabe erteilt... Also?" Er klang sehr erwartungsvoll. Lilith wusste nicht, was er erwartet haben sollte, jedenfalls ließ sie die Schultern hängen und sah beklommen zu Boden. "I-Ich fürchte, ich habe nichts aufzuweisen, was ich als "Fähigkeit" bezeichnen könnte. Es tut mir leid, doch ist mir nichts-"
"Shhh!", unterbrach Tyvel sie, mit dem Finger auf sie zeigend. "Du wirst genug Zeit haben, nachzudenken."

Melodie des ErwachensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt