Verirrt

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Liliths Gastgeber führte sie in das Hauptgebäude, welches in seiner Pracht auf dem höchsten Punkt des Berges thronte. Es war aus grauem Stein gemeißelt und mit feinsten Mustern versehen, innen sowie außen.
Als sie den Empfangsbereich betraten, schlug ihnen eine Welle aus Wärme entgegen. Lilith spürte, wie ihre Körpertemperatur auf angenehmste Weise anstieg. Schlagartig stellte sie fest, wieviel Glück sie gehabt hatte, nicht erfroren zu sein. Im Mantel wurde ihr schnell zu warm, weshalb sie die Knöpfe öffnete und ihn abstreifte.
Unter dem Mantel kam ein schlichtes Seidengewand zum Vorschein, worüber sie eine dünne Lederweste trug. Während sie hinter Yuro her lief, kam Lilith aus dem Staunen nicht mehr heraus. Die Räume und Flure, die sie auf dem Weg durchschritten, waren mit alten Bildern, verzierten Waffen, schnörkeligen Mustern und dutzenden Schriftrollen versehen, welche an den Wänden aufgeführt, aufgereiht oder aufgemalt waren.

Sie erreichten den Thronsaal, ein großer Raum mit vielen Fenstern. Der Boden war aus Stein und ein breiter Teppich, mit roten und goldenen Mustern versehen, zog sich vom Thron bis zum Eingang des Saals. In Kaminen zu beiden Seiten des Raumes brannte jeweils ein Feuer, welche den Raum in eine gemütliche Atmosphäre tauchten. Draußen dämmerte es bereits, durch die Wolkendecke konnte Lilith allerdings nur erkennen, ob es hell oder dunkel wurde.
Jegliche Farben, die ein Sonnenuntergang eigentlich mit sich brächte, kamen enttäuschender Weise nicht zur Geltung.
Daher wunderte sich Lilith nicht, dass diese Menschen so grimmig und stumpf gestimmt waren. Sie wusste nicht, ob sie es selbst so lange ohne die Farben der Natur aushalten könnte, ohne wahnsinnig zu werden.

So schaute sie in einem Anflug von Verständnis ihren Gastgeber an, der sie im Eingang stehen gelassen und sich am Ende des Saales auf einen Thron gesetzt hatte. Dort setzte er eine gleichgültige Miene auf und stützte seinen Kopf in seiner Hand.

Da sie seit dem Betreten des Gebäudes keine Worte mehr gewechselt hatten, stand Lilith immer noch verloren im Eingang des Saales herum, ließ ihren Blick streifen und kratzte sich nervös am Oberarm.
Offenbar bemerkte Yuro erst jetzt, dass er seinen Gast im Raum stehen gelassen hatte, denn er schüttelte den Kopf und räusperte sich, als würde er gerade aus einem Traum aufwachen und nun wieder in die Realität zurückfinden. Er deutete auf den Tisch, welcher in der Mitte zum Abendmal aufgestellt und gedeckt wurde. Nur ein Stuhl stand am Kopf des Tisches, gegenüber vom Thron und ein Diener stellte gerade ein Tablett mit verschiedenem Fleisch, jeweils einen Krug mit Milch und Wein und das entsprechende Besteck und Geschirr auf den Tisch.
Yuro machte eine einladende Geste, blieb jedoch sitzen.
"Iss dich satt."
Lilith wollte eigentlich widersprechen, fragen, ob er nicht essen würde, doch ihr Magen schlug ihr die Idee direkt wieder aus dem Kopf. Es war auch eine Sache des Anstands und sie wollte Yuro nicht verärgern. Als würde er Liliths Gedanken lesen, schüttelte Yuro nur den Kopf. "Ich habe keinen Appetit. Iss."

Das ließ sie sich nicht zweimal sagen und langte zu.
Während sie noch aß, sagte der Mann nicht ein Wort. Um ehrlich zu sein, hatte Lilith es auch nicht erwartet, trotzdem war sie leicht enttäuscht über seine Wortkargheit.
Als sie nach ungefähr drei Minuten begann, das Essen etwas langsamer in sich hineinzustopfen, schien der Hunger fürs Erste gestillt, oder zumindest besänftigt zu sein. Darauf musste Yuro gewartet haben, denn er beugte sich vor und musterte sie von oben bis unten.
"Also... Wo kommst du her?"

Lilith schluckte. Sollte sie ihm sagen, dass sie nichts über ihre Herkunft wusste? Ein Instinkt in ihr rief, dass sie es besser nicht sagen sollte. Am Ende hatte sie etwas verbrochen und wusste es jetzt nicht mehr. Vielleicht konnte Yuro ihr aber auch helfen? Dieser Gedanke gefiel Lilith viel besser.
Konnte sie Yuro Horelio, dem unfreundlichen König der toten Stadt Arborea, trauen? Womöglich blieb ihr nichts anderes übrig. Womöglich war er jemand, der ihr in diesen Zeiten den Weg weisen könnte. Der gleiche Bedienstete, der den Tisch gedeckt hatte, räumte nun den Tisch wieder ab, die Getränke ließ er stehen.
Lilith lächelte dem jungen Mann dankend zu, dieser senkte ergeben den Kopf und entfernte sich, mit seinem Tablett in den Händen.
Als er weg war, wandte Lilith sich ihrem Gastgeber zu. Die Frage, die er eben gestellt hatte, hallte ihr durch den Kopf und stieß auf schwindelerregend gähnende Leere.
"Ich weiß es nicht." Sie merkte, dass ihr Herz ihr bis zum Hals klopfte. Es war eine Sache an ihr, sie hatte es nie ändern können. Es gefiel Lilith nicht, Dinge auszusprechen, die ihr unangenehm oder gar peinlich waren. Immer wenn sie es tat, dann kam die Gewohnte Reaktion ihres Körpers. Sie verfiel ins Stottern und ihr Hals wurde trocken, sodass sie im Normalfall kein Wort herausgebracht hätte. Es war ein Gefühl, keine richtige Erinnerung. So war Lilith und es fühlte sich trotz allem gewohnt, beinahe gut an. Es war ihr, für manche Situationen gewohntes Verhalten.
Es war das Verhalten von Lilith.

Melodie des ErwachensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt