Roter Schnee

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Sie waren nun ungefähr zwei Wochen unterwegs. Ungefähr ein Viertel des Weges war ohne besondere Zwischenfälle zurückgelegt. Mit Coran wechselte Lilith kein Wort während der Fahrt. Wie sollte sie auch, er ritt mit den Gardisten voran und sicherte den Weg ab, sodass sie nie dazu kamen, auch nur einen Blick zu tauschen.

Ihr Weg führte sie am Waldrand des Reiches der Elfen entlang. Laut den Geschichten aus der Bibliothek Arboreas und dem, was Rabea erzählte, waren die Elfen ein stolzes Volk von Architekten und Kämpfern.
Vor langer Zeit haben die Menschen von Arborea mit dem Reich der Elfen Krieg geführt, es gab viele Tote und es wurde kein Sieger in den Schriften genannt.
Der Zeitabschnitt seit dem ersten Krieg gegen die Elfen aus Calara bis zum Beginn des großen Winters war Lilith komplett unbekannt und in der Bibliothek nicht existent, als hätte es diese Zeit nicht gegeben. Vielleicht könnte der Lehrer in Karthem sie aufklären.

Was genau heute für ein Tag war, konnte Lilith trotz Allem nur vermuten, sie schlief viel und schaute die restliche Zeit nur aus dem Fenster. Die Landschaft veränderte sich von Ebene zu Wäldchen, von Wäldchen zu Ebene, alles mit Schnee bedeckt.
Zusammengefasst konnte Lilith also sagen, dass lange Kutschfahrten langweilig, aber auch gleichzeitig anstrengend waren. Anders gesagt war es eine kleine Tortur. Die Gesellschaft war zwar nicht schlecht, aber gegen das Leben auf engstem raum und harten Bänken konnte nicht einmal Ersteres helfen.

Das synchrone Klackern der Hufe auf dem Pflastersteinen musste Lilith irgendwann wiedereinmal eingeschläfert haben. Recht unsanft warf sie ein lautes Rumms, gepaart mit dem abrupten Anhalten der Kutsche aus ihrem Schlaf. Mit einem Laut der Verwunderung blinzelte sie und öffnete die Augen, um in Rabeas entsetztes Gesicht zu schauen.

In die entsetzten Augen der Rabea, die doch eigentlich für ihre Gefasstheit bekannt war. Die Frau hatte ihr Kind an sich gedrückt und die Arme schützend vor ihr verschränkt.
Was war los?
Als Liliths Sinne langsam erwachten, drangen die Schreie von draußen zu ihr durch, es waren Rufe der Soldaten, gepaart mit Schmerzensschreien. Klingen wurden aufeinander geschlagen, Geschosse surrten durch die Luft. Vom einen auf den anderen Moment war die Kutsche zum Stehen gekommen. Schrecklicher Weise blieb ihnen aus dieser Position nichts anderes übrig, als zu lauschen.

Die Minuten zogen sich in der Unwissenheit über das, was draußen passierte und die Kälte drang trotz warmer Kleidung tief in Liliths Knochen ein. Irgendwann nahm der Krach an Intensität ab, es wurde ruhiger und wechselte zu einer beinahe gespenstischen Stille. Sie alle hielten die Luft an. Was würde jetzt passieren?

Das erfuhren sie, als die Tür aufgerissen wurde und Alexa einen schrillen Schrei des Schreckens von sich gab.

Das Licht fiel herein und Lilith musste blinzeln, um dem Licht von draußen Stand zu halten und nicht wegzuschauen. Ein flüchtiger Blick zu Rabea zeigte ihr, dass ganz sicher kein Freund die Tür geöffnet hatte.

"Herauskommen, meine lieben Damen." Es war ein, Mann, seine Stimme war tief und er musste grinsen, seinem Wortlaut nach zu urteilen. Lilith schaute panisch zu Rabea, diese nickte mit versteinerter Miene. Sie würden sich etwas ausdenken müssen! 

So stand Lilith als Erste auf, ihre Tasche ganz beiläufig zur Seite schiebend. Dies in der Hoffnung, dass ihre Habseligkeiten nicht in die Aufmerksamkeit des Mannes geraten würden. Anscheinend hatte Lilith Erfolg damit. Sie stolperte durch die schief hängende Kutsche und tauchte in das grelle Weiß ein. Der Anblick, der sich ihr jetzt bot, hätte Lilith unter Umständen dazu gebracht, jegliche Nahrung, die sie zu sich genommen hatte, wieder hochzuwürgen.

Der weiße Schnee war in Blut getränkt und mindestens drei Dutzend tote Körper zierten das kleine Schlachtfeld um die Kutsche. In einem Anflug von Panik schaute sie sich nach Coran um. Der Gedanke, dass einer dieser namenlosen, toten Körper ein Bekannter, vielleicht sogar ein Freund sein konnte, war für sie bisher unvorstellbar gewesen.
Sie hatte den Tod in ihren Büchern wie nichts abgehandelt, obwohl es jeden treffen konnte. Ebenso hatte Lilith mit keinem dieser Soldaten gesprochen, aber auch sie hatten einen Namen und eine Geschichte. Und diese Geschichte war vorüber, von Jetzt auf Gleich.
Liliths Geschichte hatte gerade erst angefangen und deshalb müssten sie sich etwas überlegen. Sie mussten fliehen, sonst würden sie sterben. Das sagten ihre Instinkte.

Melodie des ErwachensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt