Das Nahe und das Ferne

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Anscheinend hatte Lilith bei ihrem ersten großen Zauber viel Glück gehabt. Sie erinnerte sich gerne, wie sie den brennenden Phönix beschworen hatte. Heute brachte Lilith nicht mal ein bisschen Magie zustande.

Es war, als sei sie komplett ausgelaugt. Abgesehen davon ging es ihr auch nicht besonders prächtig. Seit dem Zauber hatte sich in ihr eine derartige Erschöpfung festgesetzt, dass man meinen könnte, sie hätte seit Tagen nicht geschlafen oder wäre gar krank. Dagegen sprach, dass Lilith weder Schmerzen hatte, noch, dass sie an Schlaflosigkeit litt. Das sah Meister Tyvel anders.

"Wenn du krank bist, dann musst du dich auskurieren", beschloss er streng und schickte sie geradewegs zurück in die Räumlichkeiten des Klosters. Allerdings war noch früher Morgen.

Was sollte Lilith jetzt machen? Auf ihr persönliches Büchlein hatte sie gerade überhaupt keine Lust und alle anderen Leute waren noch im Unterricht. Zum Schlafen war Lilith zu wach und für ein Buch hatte sie jetzt auch keine Nerven. Sich die Beine zu vertreten, war aktuell also die einzige Möglichkeit, nicht an Langeweile zu sterben.

Nachdem sie das Instrument auf ihr Zimmer gebracht hatte, beschloss Lilith, etwas in Richtung der Stadt zu laufen. Es war eh kein Meister da, der es ihr verbieten könnte.

Sie durchquerte den leeren Hof und betrat den Gang, der nach draußen führen sollte. Gerade, als sie um die Ecke bog, stieß sie fast mit einem sehr bekannten rothaarigen Jungen zusammen. Dieser murmelte "tschuldigung, ich...", ehe er Lilith erkannte.

"Hey Lilith!", rief Teddy aus und grinste. "Pscht, nicht so laut", zischte sie, musste aber auch grinsen.

"Na, was machst du so früh am Tag hier?", fragte er, richtete seine Robe wieder und lehnte sich an die Wand.

"Das Gleiche könnte ich dich auch fragen", gab sie zurück. Teddy hielt nur das Brett mit dem Pergament hoch und musste sich augenscheinlich anstrengen, nicht loszulachen.

"Gut, erwischt!", sagte Lilith resignierend. Der Junge winkte ab. "Ich verpfeif' doch keinen!"

"Ich wollte mir mal die Beine vertreten. Mir geht es nicht gut so heute."

Teddy musterte sie besorgt und hielt seinen Handrücken auf ihre Stirn. "Nicht dass du krank wirst."

Lilith wurde die Berührung doch sehr schnell unangenehm und so schob sie seine Hand weg. "So schlecht geht es mir wieder auch nicht."

"Oh, tschuldigung!" Er zog die Hand zurück und deutete auf die Ausgangstür, die nicht mehr weit war. "Lass uns doch draußen weiterreden." Lilith nickte und folgte ihm hinaus. Der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln, als sie zu dem Felsvorsprung schlenderten und sich an den Rand setzten. Lilith ließ die Beine über dem Hang baumeln und schaute in die Ferne.

"Wegen eben, das tut mir leid", begann Teddy, kaum, dass sie sich gesetzt hatten. "Wenn man mit einer kleinen Schwester lebt, entwickelt man sozusagen...", Er schnipste wie wild mit den Fingern und versuchte augenscheinlich, auf ein passendes Wort zu kommen.

"Instinkte?", schlug Lilith vor.

"Genau! Das ist es!" Teddys Enthusiasmus war einfach umwerfend und man erkannte ihn genauso in seiner Schwester wieder!

"Jedenfalls waren wir nicht immer hier." Seine Stimme nahm einen nachdenklichen Ton an.

"Wir haben bis zu Pens achtem Lebensjahr auf der Straße hier in Karthem gelebt."

"Was war mit euren Eltern?" Der Junge schüttelte den Kopf. "Tot, alle beide. Gehängt für Hexerei." Die Antwort löste ein unangenehm stechendes Gefühl tief in Lilith aus.

Melodie des ErwachensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt