Gesandt

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Panik. Schmerz. Angst. Trauer. Es fühlte sich an, als prasselten all diese Gefühle auf einmal auf Lilith ein. Sie fuhr hoch und schlug die Augen auf. Das Erste, was sie sah, war Corans besorgtes Gesicht über ihr. Sie waren noch draußen. Es war immer noch kalt. Sie erinnerte sich.

Eben noch hatte der Junge sie draußen beim Spielen mit der Violine erwischt und sich kurz mit ihr unterhalten. Dann hatte er gefragt, wo Lilith das Spielen mit dem Instrument lernte. Dann war es passiert. Innerhalb eines Herzschlages wurde sie in ihre Kindheit katapultiert und hatte sich an etwas erinnert.

Sie hatte sich an etwas aus ihrer Vergangenheit erinnert! Es war so klar, so deutlich und die Szene spielte sich mehrmals in ihrem Kopf ab. Vater hatte ihr die Grundlagen mit der Violine beigebracht. Einen genauen Ort oder eine genaue Zeit konnte sie nicht feststellen, höchstens, dass sie in der Erinnerung viel jünger war, als heute.

Lilith musste zusammengebrochen sein, sonst würde sie hier nicht im Schnee liegen, mit Kopfschmerzen und mit besorgten Blicken eines Jungen durchlöchert, der eigentlich viel zu arrogant war, um besorgt um sie zu sein. Die Erinnerung brachte viele gute Gefühle mit sich. So komisch es auch war, Lilith war glücklich über diesen Moment.

Als sie die Augen aufschlug, trafen sich ihre Blicke und blieben für einige Herzschläge aneinander hängen, ehe Lilith Anstalten machte, aufzustehen. Coran machte hektisch Platz und räusperte sich, offensichtlich peinlich berührt.

"Kannst du stehen?", fragte er mit einer, für ihren Geschmack viel zu besorgten, Tonlage. Zumindest für einen Fremden.

Lilith nickte, auch wenn ihr Gleichgewicht das Gegenteil sagte.

"Mir fehlt nichts", log sie, während sie sich den Mantel zurechtrückte. Liliths Kopf brummte und ihr war schwindelig. Die Situation, die sie erlebt hatte, pochte in ihrem Kopf und wollte unbedingt beachtet werden. "Wie lange...?"

Eigentlich wollte Lilith mehr sagen, doch kam in diesem Moment kaum mehr über ihre Lippen.
"Ein paar Minuten. Du hast irgendwas mit deinem Vater geflüstert und sahst aus, als wärst du nicht ganz klar im Kopf. Dann bist du umgekippt. Passiert dir das öfter?" Er legte den Kopf schräg.

Eine Antwort bekam er nicht, als Lilith die Violine aufhob und sich zum Gebäude aufmachen wollte.

"Was ist nur mit dir los?", rief Coran ihr hinterher. Lilith hätte schwören können, eine Spur von Verletztheit in seiner Stimme zu hören. Sie konnte sich aber auch täuschen.

Er hätte sich einfach in den Weg stellen können, doch machte er nicht mal Anstalten, sie zu etwas zwingen zu wollen. Bei diesem Gedanken bekam Lilith ein schlechtes Gewissen, sie war ihm eine Antwort schuldig. Daher blieb sie stehen und drehte sich wieder zu ihm um.

"Ich habe mich an etwas erinnert. Etwas, wovon ich gedacht habe, es für immer verloren zu haben." Der Gedanke daran, brachte sie unwillkürlich zum Lächeln, nur für einen Moment. Sie räusperte sich und wurde wieder ernst, als ihr ein neuer Gedanke in den Kopf schoss.

"Verrate es bitte keinem."
Lilith hatte sich in diesen Schlammassel hinein geritten, also würde sie nun einen Leibwächter der Königin bitten, ein Geheimnis vor eben dieser zu behalten. Dass sie sich also mehr, als dumm dabei vorkam, war verständlich.

Coran nickte nur langsam, sie musste wahrscheinlich wie eine Wahnsinnige klingen und aussehen.

"Schaffst du es allein hinein?" Er verschränkte die Arme und schien keine ihrer Antworten akzeptieren zu wollen.

"Ich denke schon. Danke, Coran." Es war das erste Mal, dass sie diesen Namen aussprach und sie konnte nicht leugnen, dass sie den Kerl nicht ganz so sehr hasste, wie sie es sich wünschte. Jedenfalls für diesen Moment.

Er schien verblüfft und daher zog Lilith es vor, den Weg zum Gebäudeeingang einzuschlagen, ohne seine Hilfe in Anspruch zu nehmen. Sie wusste, dass der Junge sie nicht zu irgendetwas zwingen würde. Daher schlug sie das offensichtliche Angebot aus und versuchte nun, so schnell wie möglich hier weg zu kommen.

Melodie des ErwachensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt