Von Licht und Unheil

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Lilith wusste zwar, dass die Reise gen Südosten lange dauern würde. Immerhin war sie ja auf dem Hinweg an dem großen Wald vorbeigekommen. Von dort aus würde der Marsch nach Calara nur noch wenige Tage dauern. Doch nun, bereits am achten Tag ihrer Reise war sie es einfach nur leid. Das ewige reiten, die kurzen Pausen. Das hatte Lilith definitiv nicht vermisst. Im Kloster war bestimmt nun Zeit zum Frühstücken. Wer wohl heute an ihrer und Rubys Stelle das Frühstück machte? Welches interessante Thema hatte Sisari heute für ihre Schüler vorgesehen? Auf welche Weise würde Meister Zelarus heute seinen Schülern Angst einjagen?

Doch, worüber Lilith wirklich stundenlang nachdenken konnte, war: Was machten ihre Freunde gerade? Wie sauer war Pen? Wie enttäuscht war Meister Tyvel? Hatte ihre Freundin ausgepackt?

All diese Fragen und mögliche Antworten durchfluteten Liliths Gedanken, als sie eine kurze Pause machten.

"Worüber denkst du nach?", fragte Taric. Er kam hinüber und setzte sich im Schneidersitz neben sie. "Immer noch das gleiche?"

Lilith nickte und nahm einen Schluck aus ihrer Flasche. "Es geht nicht weg."

Taric schüttelte den Kopf und grinste. "Ich kann es nicht oft genug sagen. Sinah ist bestimmt auch nicht erfreut darüber, dass ich einfach so fortgegangen bin. Und das auch noch mit zwei anderen Mädchen!"
Er winkte ab und lachte. "Beziehungen sind anstrengend."

Lilith machte einen schlecht gelaunten Schnaufer. "Oh ja", sagte sie.

Taric verstand, was sie meinte. "Tschuldigung."

"Keine Ursache", antwortete sie. "Was meinst du, wann kommt Ruby wieder?"

Er zuckte mit den Schultern. "Sie ist bekannt dafür, eine Sammlerin erster Klasse zu sein. Demnach sollte es nicht lange dauern."

"Was meinst du, was wir auffinden werden?", fragte Lilith und schaute den Jungen an.

Dieser verzog das Gesicht. "Vorausgesetzt, wir behalten die Spur der Königin lange genug."

Sie verdrehte die Augen und winkte ab. "Darüber sind wir dann schon hinaus."

Er kratzte sich am Kinn und dachte einen Moment nach.

"Ich vermute, dass die Königin mit ihrem Heer weit kommen wird. Aber das nur solange, wie dein Monster fortbleibt. Nicht auszudenken, wenn es zuhause dabei gewesen hätte."

Lilith schluckte. Ein riesiges Monster, das in Schatten gehüllt durch zerstörte Häuser und Mauern watet. Dieses Bild wünschte sie keinem.

"Deshalb sind wir ja da", schallte Rubys Stimme hinter ihnen. Sie stapfte zu ihnen und schüttete die Beeren auf dem Stofftuch aus.

"Beim nächsten Mal geht einer von euch sammeln", schnaubte sie und wischte sich die Finger im Schnee ab.

Lilith und Taric langten zu, während Ruby eine Landkarte aus ihrem Rucksack zog. Im nördlichsten Teil der Karte lag Karthem, das Umland von Arborea bildete den unteren und somit südlichsten Teil. Im Osten erstreckte sich der riesige Wald, in dessen Zentrum die Hauptstadt der Elfen lag.

"Ich habe vorhin ein bisschen gerechnet. Wir müssten ungefähr hier sein."
Ruby deutete auf eine Stelle der Karte, unweit vom Gebirge.

Gestern hatten sie die Berge noch in ihrem Rücken gehabt, heute war die Sicht zu unklar. Das Gefühl von Zuhause rückte mit jedem Schritt ebenso immer weiter weg. Sie würden es wieder fühlen. Bald.

Somit hätten sie tatsächlich schon bald die Hälfte der Strecke geschafft. Dieser Tatbestand erinnerte Lilith noch einmal daran, welche Hilfe sie eigentlich bekommen hatten. Ruby hatte den Schlüssel für die Ställe irgendwann entwendet und konnte ihnen so zwei Pferde bereitstellen. Nicht auszudenken, wie lange sie im Fußmarsch brauchen würden.

Melodie des ErwachensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt