Begegnungen

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Wie sagte man doch so schön: "Warum lange glücklich sein, wenn man auch das Unglück ausprobieren konnte?" Bekanntlich hielt Liliths Glück meistens nicht lang und endete wahrscheinlich eh wieder in einer Bewusstlosigkeits-, Peinlichkeits- oder "Alles-geht-schief-was-nur-schiefgehen-kann"- Situation.

Würde man diese Nacht als nüchterner Beobachter betrachten, könnte man leicht zu dem Schluss kommen, dass sie sehr fair verteilt war:
Ungefähr die erste Hälfte der Nacht träumte Lilith von Sommer, Blumen, Musik, Spaß und all dem, was einem ein wohliges Gefühl gab, wenn man daran dachte. Die Zweite Hälfte begann gerade, als sie sich nach einem nächtlichen Schluck Wasser wieder hinlegte, um genau von jenen schönen Dingen weiter zu träumen.

***

Lilith wusste, sie konnte eigentlich gar nicht hier sein und doch fühlte es sich beinahe normal an. Sie stand auf einer Wiese, einer kleinen Anhöhe. Kein Schnee weit und breit. Lange Grashalme und bunte Blumen ragten aus dem Boden und wären eigentlich ein schöner Anblick gewesen. Wäre dort nicht das herannahende Unwetter. Es bedeckte den gesamten Himmel, wurde vom Wind zu ihr getragen, während die Blitze in den beinahe schwarzen Wolken zuckten.

Es rollte heran wie eine Flutwelle, die alles auf ihrem Weg verschlang, während es immer lauter donnerte. Lilith schaute sich um und erblickte hinter ihr inmitten der grasigen Anhöhe einen Baum, eine Eiche. Er trug grüne Blätter, hatte eine hellbraune Rinde und schien nur so voller Leben zu sein. Dann passierte etwas, das Liliths Blut gefrieren ließ: Ein eiskalter Windstoß blies die Blätter des Baumes mit einem Schlag weg. Sie lösten sich, wurden grau und vom Wind davongetragen, von ihrem Körper losgerissen. Alle Blätter wurden vom Wind weggeblasen und somit zum Tode verurteilt. Alles Blätter, bis auf eines.
Dieses Eine hielt dem Wind stand, ließ sich nicht fortreißen, während dieser immer stärker wurde. Die Dunkelheit des Gewitters hatte sie mittlerweile erreicht und es begann, zu Liliths Verwunderung, zu schneien. Der Schneefall artete binnen Sekunden in einen regelrechten Schneesturm aus, der in ihren Ohren heulte und immer lauter wurde. Immer lauter, bis es schließlich nicht zu ertragen war.
Die Sicht wurde immer schlechter und es wurde immer lauter, weshalb Lilith sich auf den Boden kauerte, die Augen zusammenpresste und die Hände auf die Ohren drückte.

***

Sie fuhr hoch und riss panisch die Augen auf. Der Schneesturm war verschwunden, sie war nicht auf dem Hügel mit dem Baum. Sie lag in einem Gästezimmer des Schlosses Karthem, der Heimat von Königin Rabea und ihrer Familie. Lilith wischte sich den Schweiß von der Stirn und atmete tief ein und aus, um das Zittern und die Aufregung zu mindern.
Es musste schon Morgen sein, da das Fahle Licht des Wintertages bereits durch das kleine Fenster herein fiel. Als Lilith sicher war, ihr würde hier nichts passieren, atmete sie aus und ließ den Kopf wieder in das weiche Kissen sinken.

Es klopfte an der Tür und die besorgte Stimme einer der Dienerinnen drang zu ihr durch.

"Geht es Euch gut, Mylady?"

"Ja, alles bestens!", gab Lilith zur Antwort.

"Ihre Majestät möchte Euch in einer halben Stunde in der Eingangshalle sehen!", rief die Dienerin. Offenbar erwartete sie keine Antwort, denn schon klackerten ihre Schritte den Gang hinunter und ließen Lilith wieder allein.
Diese seufzte und setzte sich langsam auf. Heute war ihr großer Tag, heute würde der Unterricht beginnen, von dem Rabea seit Wochen schwärmte. Und doch war sie nicht gut gelaunt.

Der Traum geisterte noch immer in ihrem Kopf herum. Selbst, als Lilith mit gepackter Tasche in der dezenten, doch irgendwie trotzdem prachtvollen Eingangshalle auf Rabea wartete. Er wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen, obwohl es eigentlich nur ein banaler Alptraum gewesen sein musste.

Nach wenigen Minuten wurde die Tür hinter Lilith aufgestoßen und Rabea, gefolgt von Heira und zwei Wachen betrat den Raum. "Schön, dass du da bist, Kleines. Der Meister wartet schon." Die Frau machte eine deutende Handbewegung zur Tür hin und die Wachen öffneten das Ausgangstor. Tageslicht fiel herein und gab die Sicht auf eine Person frei.

Melodie des ErwachensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt