Wie klein die Welt doch ist

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Den ganzen Nachmittag verbrachte Lilith damit, Meister Tyvel zu erzählen, wer sie war und was sie wusste. Obwohl es so wenig erschien, fragte er viel nach und schien sich alles zu merken.

Was für ein Tag!

Zuerst wurden sie und Ruby von Dunkelelfen überfallen. Nun saß Lilith hier und erzählte ihrem Lehrer (der sich als Magier entpuppt hatte!) ihre größten Geheimnisse. Es gab richtige Magie und sie schien laut Tyvel gerade in Lilith hoch angehäuft zu sein. Er sagte, ungezähmte Magie sei gefährlich und müsste unter Kontrolle gebracht werden. Außerdem baute er darauf, dass sie etwas mit seiner wiedererlangten Magie zutun hatte.
Wie könnte gerade das Erscheinen eines einzelnen, verirrten Mädchens dafür sorgen, dass sich etwas in der Welt derart veränderte? Tyvel hatte einen Teil seiner Magie zurückerlangt und wollte Lilith nun helfen, ihre eigene zu kontrollieren. "In der Tat wird es eine spannende Zeit. Schließlich wir wissen nicht, in wem ebenfalls Magie schlummert, die bald erwacht", hörte sie den Mann in jedem zweiten Atemzug auf irgendeine Weise erwähnen. Man konnte nicht vorsichtig genug sein, schon verstanden.

Die extremen Wetterbedingungen kehrten in den nächsten Tagen langsam wieder in "normale" Zustände zurück. Trotzdem verbrachte Lilith die meiste Zeit damit, mit Tyvel in seinem Gemach zu verweilen und die Magie zu erforschen. Nun, da sie bereits flüchtig die Magie von Tyvel gespürt hatte, war es ihre Aufgabe, die eigene Magie zu fühlen. Als sie Violine spielte, war es viel einfacher, die Magie zu erkennen. Wenn sie jedoch nur dort stand und sich konzentrierte, meldeten ihre Sinne meistens nichts.

"Sicher, dass es so deutlich zu erkennen ist?", fragte sie stutzig, als sie einmal mehr mit geschlossenen Augen auf dem kalten Steinboden kniete. Tyvel stand irgendwo hinter ihr. "Mehr, als alles andere!", antwortete er. "Konzentriere dich nicht auf deine Sinne! Dein Körper ist dir keine Hilfe, wenn du Magie erkennen möchtest. Nur weil du sie jetzt nicht sehen kannst heißt es nicht, dass sie nicht da ist!"

Auf seine Worte hin konzentrierte Lilith sich weiter und versuchte tief in den eigenen Geist hineinzulauschen. Stille. Leere, beides wirkte beinahe gleichgültig. Das letzte Mal hatte Lilith so etwas gefühlt, als sie vor Monaten im Nirgendwo aufgewacht war. Leer wie ihr Gedächtnis war ihr Geist. Irgendwann verlor sie die Geduld und schnaubte, als sie die Augen öffnete. Sie rutschte in den Schneidersitz und verschränkte die Arme vor der Brust. "Ich kann es einfach nicht!", klagte sie. Beim Aussprechen des Satzes fiel ihr auf, wie albern und kindisch es klang.

Tyvel schüttelte nur den Kopf. "Du brauchst Zeit. So viele Menschen vor dir haben Magie zu fühlen versucht und nur den Wenigsten ist es früh gelungen."
"Aber irgendwann ist es ihnen gelungen", gab Lilith kleinlaut zu.
"Nimm das als heutige Lektion mit." Sagte Tyvel und entließ sie verfrüht aus seinem Unterricht. Seit sie dem Meister die ganze Geschichte erzählt hatte, schien er dauerhaft zu forschen. Er las Bücher über Gedächtnisverlust, Magie und studierte Karten auf der Suche nach dem Hain, in dem für Lilith alles angefangen hatte. Diesen konnte er nirgendwo finden. Mit einer Himmelsrichtung konnte sie dem alten Mann auch nicht weiterhelfen. Wie hätte sie sich komplett verwirrt in tiefster Nacht eine Himmelsrichtung merken sollen? Die Antwort war klar.

Weder über Yuro, noch über Arborea oder seine Vergangenheit sprach Meister Tyvel. Er blockte jegliche Fragen ab und sagte jedes Mal, dass die Aufzeichnungen verschwunden waren. Lilith merkte, dass er etwas wusste. Allerdings war er sehr ausdauernd und fand immer neue Methoden, das Thema zu beenden oder von diesem abzulenken. Was war nur mit allen los? Es war zum Verrücktwerden.

Lilith beschloss, die Sache für's Erste ruhen zu lassen und sich eher auf die Ausbildung zu konzentrieren. Auch wenn sie sich manchmal mehr als ein Forschungsobjekt fühlte, als ein Mädchen, spielte sie das Spiel mit. Es belastete sie eher, dass es auf einmal alles so viel war. Letzte Woche noch eine Schülerin unter Vielen, heute "Ein Phänomen", wie Tyvel sie gerne nannte.

Melodie des ErwachensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt