Träume und Stürme

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Die Sonne war bereits untergangen. Der Westen war nur noch leicht erfüllt vom Abendrot, den letzten Strahlen der Sonne, die vor knapp zehn Minuten hinter den Baumkronen am Horizont verschwunden war. Ein leichter Duft von Lavendel lag in der Luft und der Innenhof war dicht bevölkert. Es war hell und trotz der zahlreichen Fackeln konnte Lilith die Sterne erkennen, welche den wolkenlosen Abendhimmel erhellten. Viele Menschen unterhielten sich und die Stimmung war ausgelassen. "Wann erscheint sie?" und "wann geht es los?" fragten die anderen Kinder.

"Bald, keine Sorge", antwortete ein großes Mädchen mit dunkler Haut. Sie war schon älter als die meisten, irgendwas zwischen zwölf und sechzehn.

Lilith kannte sie. Ihr Name war Shira und normalerweise ging sie immer für das Dorf jagen. Doch heute hatte sie weder einen Köcher am Rücken, noch ihren Bogen in der Hand. Stattdessen trug sie, wie alle, ihre besten Kleider. Ihre Haare waren so ordentlich und gekämmt, wie es bei ihren krausen Haaren möglich war und sie wirkte sehr angespannt.

"Wo ist Vater?", fragte Lilith an das Mädchen gewandt. Shira lächelte und hockte sich auf ihre Höhe, scheinbar froh, eine Ablenkung gefunden zu haben.

"Er wird die Königin empfangen, das weißt du doch!"

Lilith schüttelte genervt den Kopf. Natürlich wusste sie es, trotzdem wollte sie bei ihm sein.

"Als stellvertretender Verwalter unserer Provinz..."

"...Ist es seine Pflicht", beendete Lilith den Satz. Sie hatte ihn schon viel zu oft gehört. Eigentlich hatte sie auch keine Lust auf diese Krönungszeremonie. Trotzdem musste sie so tun, als würde sie sich mit dem gesamten Volk freuen. Eine neue Königin wurde gekrönt, nachdem der letzte König aus Altersschwäche davon geschieden war. Sieben Jahre lang zog sich die Trauerzeremonie um ihn, er schien ein großer Mann gewesen zu sein. Leider hatte Lilith ihn nie kennen lernen dürfen, da er wenige Wochen vor ihrer Geburt verstarb. Die Zeremonie hatte also ihre gesamte Lebenszeit verboten, einen neuen Herrscher zu krönen. Nun war die Zeit gekommen, in der eine neue Herrscherin die Nachfolge des letzten Königs antrat.

Allerdings war bis dahin noch etwas Zeit, sodass Lilith beschloss, sich in dem steinernen Innenhof des Schlosses von Arborea umzusehen. Daher löste sie sich unauffällig von den anderen Kindern und drängelte sich durch die Menge, um etwas Freiraum zum Erkunden zu finden. Die Zinnen der hohen Burgwälle ragten um sie herum auf und auch die Wachen mit ihren langen Hellebarden boten gute Orientierung. Nach einigen Minuten des Umsehens konnte Lilith sich schon ein gutes Bild des Schlosses von Arborea machen. Gerade durchquerte sie die angrenzenden Gärten, die weitaus ruhiger waren, als der Rest des Schlosses. Keine Menschenseele zu sehen, nur das sanfte Plätschern des Springbrunnens war zu hören. Ihre Schuhe hatte sie bereits ausgezogen.

Lilith wollte das saftige Gras und die leicht angefeuchtete Erde unter ihren Füßen spüren, keine Ledersohlen. Dies war ein friedlicher Ort, der dazu einlud, die Seele baumeln zu lassen. Irgendwie überkam sie das Bedürfnis, ihre Violine von dem Rücken zu streifen, den Bogen von ihrem ordentlich gebundenen Gürtel zu lösen und diesen auf das Instrument aufzulegen. Sie schloss die Augen und zog den Bogen über die Saiten. Ein wunderschöner Klang, voller Gefühl und Liebe, verließ das Instrument und riss Lilith selbst immer mehr mit. Sie spielte ein Lied, das sie gerade erst erfand. Doch dieses Mal war etwas anders. Als sie die Augen öffnete, war der Garten nicht mehr in das Dunkel der Nacht gehüllt.

Nein, es geschah das, woran ihr Vater immer geglaubt hatte. Blau und rot leuchtende Lichter schlängelten sich um Lilith herum durch die Luft. Es fühlte sich genauso an, wie sie es sich vorgestellt hatte. So fühlte sich Magie an. Nun presste sie die Augen zusammen und stellte sich vor, dass diese Lichter Form annahmen. Als Lilith die Augen wieder öffnete, flogen kleine, rosa und lila leuchtende, Schmetterlinge um sie herum, dann wurden sie zu Spatzen, Eichhörnchen und Kaninchen. Lilith wollte weiter probieren, doch, als sie sich in ihrem Rausch zum verschnörkelten Eisentor des Schlossgartens drehte, jagte ihr der Ruf von Shira einen solchen Schreck ein, dass sie den Bogen verzog, die Lichterscheinungen platzten, sie selbst ausrutschte und im Gras landete.

Melodie des ErwachensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt