Sternennacht

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Der Hof war viel belebter, als Lilith ihn betrat. Neugierige Blicke wanderten über ihr Gesicht hin zu den Krücken und zogen weiter. Andere blieben hängen, es wurde getuschelt. Die wabernde Aura des Unbehagens drang Lilith unmittelbar ins Herz und in den Kopf.

Schlagartig erinnerte sie sich daran, dass sie nicht grundlos hier waren. Meister Barth stand in der Mitte der Menge und zählte die Anwesenden. Pen, Teddy oder Taric konnte sie nicht entdecken. Sie war umzingelt von betrübten Gesichtern und unsicheren Blicken. Barth nickte irgendwann und machte eine lotsende Handbewegung.

"Wir sind vollzählig. Abmarsch!", rief er. Sein Blick zog an Lilith vorbei, ohne dass sich seine Miene veränderte. Und trotzdem war ihr nicht wohl zumute. Die Schüler setzten sich langsam in Bewegung, Richtung Ausgang. Lang und still war der Marsch durch die Gänge. Der kalte Wind zog bereits durch das Kloster, da die Türen vermutlich offenstanden. Es wurde nicht viel gesprochen, nur der Wind sprach in diesem Moment. Es war fast, als würde er klagen über den Verlust und all die Zerstörung, die nach der Schlacht um Karthem blieben. So ließ sich Lilith von der Menge führen, bis sie die Türschwelle passierte.

Auf der freien Fläche vor dem Eingang war ein Gerüst aufgestellt.

Auf verschiedenen Ebenen lagen die Körper der toten Schüler. Die Lider geschlossen, die Hände gefaltet. Sie sahen beinahe lebendig aus, als würden sie nur ein Nickerchen halten. Es waren neun an der Zahl. Jungs, die meisten älter, als Lilith. Mit den Wenigsten hatte sie bisher auch nur ein Wort geredet. Und trotzdem musste sie sich beherrschen, nicht in Tränen auszubrechen. Dies schafften eine Menge der anderen Mädchen nicht. Das stille Weinen um Freunde und Geschwister begann, noch bevor alle um das Gerüst herumstanden. Lilith konnte sich gerade noch einen Platz weiter vorne sichern, als Meister Tyvel zu sprechen begann. Er stand am Gerüst und stützte sich mit beiden Händen auf seinen Stock. Die anderen Meister standen zwischen den Schülern und wandten ihr Köpfe nun zu dem Mann.

"Wir haben uns an diesem Abend versammelt, um diesen treuen Seelen die letzte Ehre zu erweisen! Während der Schlacht um das Kloster verloren wir neun unserer Schüler im Kampf. Sie waren stark und geschickt. Sie ließen ihr Leben, um uns zu beschützen. So wollen wir sie heute ehren und um sie trauern."

Dann begann Tyvel, jeden Namen aufzuzählen und etwas zu jedem zu erzählen. Bei den Namen bestimmter Schüler schluchzte das eine oder andere Mädchen laut auf. War sie seine Freundin? Schwester? Welche Geschichten haben all diese Menschen erlebt, bevor sie auseinandergerissen wurden? Was für spannende, lustige und traurige Zeiten hatten sie überlebt? Lilith würde es vielleicht nie richtig erfahren. Nun waren diese Jungen tot. Nichts würde sie zurückholen und nur wenige würden sich erinnern. Eine grauenvolle Vorstellung.

Und noch, während Tyvel über die einzelnen Schüler sprach, ließ Lilith ihren Blick schweifen. In der Menge gegenüber von ihr entdeckte sie dann doch Taric und Sinah, diese hatten jedoch die Blicke gesenkt. Und dann war da noch Coran. Liliths Herz machte einen freudigen Sprung, als sie den Jungen entdeckte, wie er dort etwas versetzt hinter Taric stand. Wie durch einen Zauber hob er in genau diesem Moment den Blick. Lilith hätte schwören können, dass er überrascht war, sie zu sehen. Er lächelte nicht und sah eher überrascht aus. Sie starrten ein paar Sekunden einander an, schweigend. Natürlich durften sie gerade nichts sagen, es wäre respektlos. Coran löste seinen Blick wieder und schaute nun zu Meister Tyvel. Dieser schloss gerade ab.

"Ja, dieser Konrad war ein tüchtiger Junge." Dann räusperte er sich. "Wie jeder weiß, ist es Tradition, dass wir die Körper unserer Krieger dem Feuer überlassen."

Er nickte langsam und Meisterin Sisari trat vor, Zelarus ebenfalls. Beide hielten sie fackeln in den Händen und näherten sich dem Gerüst. "Penelopé, beginne!", forderte Barth streng. Penelopé? Was sollte Pen machen?

Melodie des ErwachensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt