Erinnert

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Langeweile. Das war das Wort, was Liliths Zustand am besten beschreiben würde. Sie saß in ihrem Zimmer auf dem ordentlich gemachten Bett mit der Violine in den Händen. Der Morgen verlief sehr ereignislos und dieser Zustand änderte sich auch bis zum Mittag nicht.

Sie fuhr mit den Fingern über das dunkle, glatte Holz, zupfte an den Saiten und spielte ab und zu einen Ton. Das Instrument beeindruckte Lilith noch nach Wochen.
Es war wie eine Sucht. Nicht eine, an der man schließlich verendet, sondern eine, die einem einen positiven Sinn zum Existieren gab. Eine Aufgabe und eine Leidenschaft. Das war es, was das Instrument ihr schenkte. Ihre Gedanken machten verschiedene Ausflüge, während sie dort saß. 

Ein unbewusstes Schweifen lassen der Gedanken. Es war wie ein Vogelkäfig, voller wilder Vögel in allen Größen und Formen. Wenn der Vogelkäfig geöffnet wurde, kamen die Tiere heraus und flogen ihren eigenen Weg, ohne, dass jemand Anderes sie in ihrem eigenen Willen beeinflussen könnte.
Liliths Aufgabe bestand nur darin, die Tiere wieder einzufangen, nachdem sie einmal den Käfig verlassen hatten. Gerade ließ sie die Vögel allerdings gewähren.

Yuro war seit heute Morgen in seinem Arbeitszimmer mit Rabea beschäftigt.
Niemand wurde hinein gelassen, nicht einmal Johann durfte anwesend sein, während die beiden verhandelten. Und wenn Johann von etwas ausgeschlossen wurde, dann durfte Lilith erst recht nicht dabei sein. Nicht, dass sie besonders gerne dabei gewesen wäre. Politik gehörte eigentlich nicht zu Liliths Interessen. Wer wen unterdrückte, wer wie viele Menschen zum Arbeiten besaß, es war eigentlich immer das gleiche Spiel mit den Mächtigen.

Jetzt mochte man vielleicht denken, dass Yuro doch auch ein König war. Damit müsste er doch auch ein schlechter Mensch sein. Fehlanzeige. 

Yuro Horelio war zwar mächtig. Doch war er auf eine Weise mächtig, die keinen Besitz von Dingen erforderte. Er war ein kluger und herzensguter Mann, auch wenn man ihm letzteres nicht wirklich ansehen konnte. Wahrscheinlich war er noch so viel mehr. Einen Blick hinter seine Fassade zu werfen, gelang bisher niemandem. Das behauptete Johann jedenfalls.

Der Glockenturm leitete den Nachmittag mit dem Gong um drei Uhr ein, als Lilith das Herumsitzen aufgab, das Instrument beiseite legte und vom Bett herunter stieg. Ihr Kleid hatte sie gestern samt den Schuhen und dem Schmuck in eine Ecke ihres Zimmers geworfen und seitdem nicht mehr angeschaut.
Die bequeme Lederbekleidung war einfach viel besser zu tragen, praktischer und vor allem wärmer. Sie wollte raus aus den stickigen Räumen, daher schnappte Lilith sich Mantel und Stiefel, riss die Tür auf und wollte gerade den ersten Schritt hinaus machen, als ein Gefühl irgendwo in ihr sie stocken ließ.

Instinktiv drehte sie sich nochmal zu dem Zimmer um und ließ ihren Blick für ein paar Sekunden auf der Violine ruhen.
Das Verlangen, hinaus zu gehen und das wundervolle Instrument zu spielen, nahm Überhand und Lilith huschte zurück, um sich die Violine zu krallen.
Auf dem Weg nach draußen klammerte sie sich an das Instrument, als hinge ihr Leben davon ab. Es war nicht nur ein Stück Holz mit Saiten, sondern etwas ganz Besonderes. Dies merkte Lilith, als sie ohne weitere Zwischenfälle in ihrem Innenhof ankam und das Instrument auflegte.
Es war wie ein Teil ihres Körpers, ein funktionierendes und lebenswichtiges Stück ihrer Persönlichkeit.

So stand Lilith nun hier, mit dem Instrument, bereit, Musik zu erschaffen und sich dem Spiel hinzugeben. Es drängte unablässig, sie solle einfach loslassen und ihrem Instinkt folgen. Was konnte schon passieren? Die Vernunft in Lilith schrie, dass Yuro das Violine spielen verboten hatte, solange Rabea da war. Vieles konnte passieren!
Gerade schlug diese sich allerdings mit ihm herum, also warum sollte Lilith nicht das machen, was ihr gut tat und was sie wollte?
Daher atmete sie noch einmal ein und aus, ehe sie dem Drang komplett nachgab und zu spielen begann. Das Lied verstrahlte augenblicklich ein Gefühl, das Frohsinn glich und war in der Ausführung etwas hektisch. Allerdings stellte letzteres keine Hürde dar.

Melodie des ErwachensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt