Elfen und Menschen

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Ein Buch zu lesen, war eine Sache. Ein Buch über einen Ort, eine Person oder etwas anderes Fantastisches zu lesen, war ein Leichtes. Man bildete sich eine Meinung, eine Haltung zu dem Inhalt des Buches.

Man ging eine einseitige Beziehung mit etwas ein, das man noch nie im echten Leben gesehen oder erlebt hatte. Jedoch, eines dieser Dinge in der realen Welt zu treffen, war etwas, wie man es sich in seinen Träumen nur vorstellen konnte, auch wenn diese Träume so ziemlich nie auf die vorgestellte Weise eintraten.

Während ihrer Zeit in Arborea hatte Lilith sehr viel über den König von Calara und dem Königreich der Elfen gelesen. In ihrem Falle hegte sie eigentlich eine recht neutrale Haltung gegenüber dem König der Elfen. Bisher hatte sie gedacht, er sei (trotz seiner Rasse) nur ein König unter Vielen. Ein weiterer nobler Kauz, der sich den Hintern auf seinem Thron platt drückte. Heute hatte König San ihr das Gegenteil bewiesen, indem er ihr das Leben und sie alle aus dem Griff der Angreifer rettete.

Man müsste sich dies einmal vorstellen: San, der Elfenkönig, Herrscher über einen großen Teil der bekannten Welt, hatte ihr vor weniger als zehn Minuten das Leben gerettet. Hier stand er nun in seiner ganzen Pracht und dirigierte seine Männer mit einer unantastbaren Autorität, wie sie Lilith bei niemandem bisher erlebt hatte. Irgendwann zwang sie sich, ihn nicht noch länger anzustarren.

Ihr wurde langsam wieder wärmer, als der Schock und die Angst aus den Gliedern wichen. Ihre Sinne erwachten aus der Schockstarre und begannen, die Umgebung wieder klar und deutlich wahrzunehmen. Um sie herum eilten Sanitäter und Soldaten, welche die Verwundeten versorgten und ein behelfsmäßiges Lager aufschlugen.

Rabea stand die gesamte Zeit mitten auf dem Platz und drückte ihre Tochter an sich. Ihr Blick traf auf den von Lilith, verweilte für einen Herzschlag dort und wanderte wieder zu ihrer Tochter zurück, während sie unaufhörlich auf das Mädchen einredete.

Der Anblick von Rabea erinnerte Lilith an etwas, was sie eigentlich tun wollte. Sie drehte sich um und suchte das Lager ab, nach dem Jungen, um dessen Leben sie heute gefürchtet hatte. Als sie Coran nicht auf Anhieb fand, fing sie an, nach den Verletzten zu suchen. Ein freundlicher Elfensoldat brachte Lilith letztendlich zu ihrem Ziel, nachdem sie zweimal vergeblich im Lager Kreise gezogen hatte.

Coran saß im Schnee und ein Sanitäter in weißem Gewand huschte um ihn herum, während er die Verletzungen, allen voran den blau-lilafarbenen Abdruck des Schwertes auf dem Rücken des Jungen bearbeitete.

Als Lilith sich ihm näherte, schaute er auf und funkelte sie mit seinen blauen Augen an.

"Wie schlimm ist es?", fragte er.

Den grauenhaften Anblick beschrieb Lilith mit einem: "Ungefähr genauso schlimm, wie es sich anfühlen muss." Den Rest konnte Coran sich wahrscheinlich schon denken, denn er nickte nur und schaute vor sich in den Schnee.

"Willst du dich nicht setzen?", witzelte er mit rauer Stimme. Dass Lilith sich wirklich setzen würde, hatte er wahrscheinlich nicht gedacht, da er jetzt überrascht dreinschaute. Nicht einmal Coran hatte jetzt einen provokanten Kommentar dafür auf Lager.

War das gerade wirklich passiert? Sie hatte Coran aus dem Konzept gebracht, einfach nur, indem sie sich, ohne ein Wort, im Schneidersitz vor ihm auf den kalten Boden setzte. Dies bremste den Sanitäter etwas aus, weshalb er irgendeinen schnippischen Kommentar murmelte. Dies interessierte weder Lilith, noch Coran.

Jetzt saßen sie hier. Er starrte, sie starrte zurück.

"Das vorhin, das war sehr mutig von dir", ergriff er das Wort. Kurz hörte es sich wie ein Lob an, doch belehrte der Junge sie eines Besseren. "Mutige Menschen sind kurzlebig. Beim nächsten Mal wirst du vielleicht nicht so viel Glück haben."

Melodie des ErwachensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt