Tanz der Tränen

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Der Wind nahm im Laufe des Vormittags zu. Die Flaggen und Banner auf den Türmen der Festung wehten gleichmäßig gen Osten, als würden sie sich der Armee anschließen wollen. Lilith hatte es geschafft. Sie hatte Rabea überzeugt, gegen die Dunkelelfen zu marschieren. Yuro würde stolz auf sie sein, wenn er davon hörte. Der Schmerz des Vermissens saß noch immer in ihrem Herz und hatte anscheinend auch nicht vor, sich zu verabschieden. Er setzte immer ein, wenn Lilith an den Mann dachte. Was tat er gerade? Würde er finden, wonach er suchte?

Die Leere und das traurige Gefühl nahmen jedoch nicht komplett Einzug in Liliths Geist. Da war etwas Anderes, etwas Neues, das ihre Aufmerksamkeit fast durchgehend beanspruchte. Coran, der Junge, der Liliths Leben auf den Kopf gestellt hatte (auch, wenn der vorherige Zustand eher keine Ordnung vorzuweisen hatte).

Dieser Junge lief neben ihr, als sie die Straßen Karthems durchschritten. Sie hatte auf den Spaziergang bestanden, so prallten Corans Einwände von ihr ab.

"Ich wäre sonst noch wahnsinnig geworden, oben im Kloster," rechtfertigte Lilith sich, "das Alleinsein macht mich irre!"

Der Junge grinste und sah sie an. "Gut, dass du nicht mehr allein bist."

Lilith lächelte nur in sich hinein. Die breite Straße war weniger besucht als sonst und alles schien in Zeitlupe zu geschehen. Die Menschen schlurften schweigend über den Pflasterstein. Sie schienen nicht besonders glücklich zu sein. Möglicherweise hing das mit dem Diener zusammen, den Rabea kurz vor ihnen herausgeschickt hatte. Er war natürlich schon an den großen Marktplätzen und hatte die Nachricht verkündet: Rabea rief zu den Waffen.

"Alle Männer, die jemals in der Armee tätig waren, müssen diesem Ruf Folgeleisten", erklärte Coran. In der Tat liefen an ihnen nur sehr junge oder alte Männer, sowie Frauen entgegen. Natürlich war es eine Qual für Letztere, zurückzubleiben.

Sie durchschritten schweigend die verschiedenen Viertel der Stadt und hielten erst an dem Baum, der noch immer aus der Straße spross. Seine grünen Blätter tanzten im Wind und er hätte genauso auf einer sommerlichen Wiese stehen können. "Sowas habe ich mein ganzes Leben nicht gesehen," staunte Coran, "nur in Geschichten und Zeichnungen."

"Ich kenne diesen Anblick, kann mich jedoch nicht erinnern, wann ich ihn wo erlebt habe", sellte Lilith fest. Ihr Staunen konnte sie trotzdem nur schlecht verstecken.

"Nur warum passiert das erst jetzt?", fragte Coran den Baum. Dieser gab natürlich keine Antwort. Lilith versuchte, diesen Teil zu übernehmen.

"Es gibt so Einiges, wovon wir den Grund nicht wissen. Daher sollten wir uns von all diesen Wundern auf die Wichtigen konzentrieren."

Augenblicklich musste Lilith an ihr Erwachen denken. Ein Geheimnis, dem sie entweder nie oder nur in ferner Zeit erfahren würde. Es war eine Gewissheit, doch breitete sich bei jedem Gedanken daran ein ungutes Gefühl in Lilith aus. Es war schwer zu beschreiben, eine Mischung aus Ungeduld und maßloser Enttäuschung. Wo sie herkamen, wusste Lilith natürlich nicht. Und so würde das in einem Teufelskreis enden. Einem, welcher sehr gerne erspart blieb.

Der Junge grinste sie auf einmal an und nickte. "Jap, eindeutig Tyvels Schülerin." Dies ließ sie sich natürlich nicht gefallen und stieß eine ihre Krücken auf seinen Fuß.

"Au!", rief Coran aus und schaute sie verständnislos an.

"Das macht Tyvel nicht", fügte Lilith noch hinzu und lachte. Ihr Freund fand sein Lachen ebenfalls wieder.

Irgendwann verstummte ihr spontaner Lachanfall. Schweigen. Ein kurzer Blickkontakt. Ein langer Kuss.

Ihr Blick fiel auf das zerstörte Haus. Das Dach, auf dem sie vor knapp einer Woche noch gestanden und den Ausblick genossen hatten. Es war eines der Wenigen, die noch nicht frei von den Trümmern waren.

Melodie des ErwachensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt