Entfesselt

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"Wo ist er?", fuhr Lilith den Mann an und baute sich vor ihm auf. Wäre sie nicht so wütend, verwirrt und verzweifelt zugleich, hätte er ihr schon leid tun können, alle Wut auszubaden. "Wer? Was?!"

Fragte er und hob unschuldig die Hände.

"Du warst bei ihm, als das Zwischenlager angegriffen wurde! Er hat dir diese Armbrust gegeben!"

Der Mann namens Travis schien zu verstehen. "Wie... Coran! Du redest über Coran!"

Bei der Erwähnung dieses Namens drehte sich alles in Lilith um sich selbst. Sie musste ihn sehen. "Wo ist er?!"

Nun schien sich Travis langsam auch bewusst zu werden, dass er erstens größer und stärker, zweitens ein erwachsener Mann war. Er schob Lilith eine Armlänge von sich weg und massierte ihr mit der anderen Hand den angespannten Nacken.

"Nun beruhige dich erstmal, ja? Ich finde Coran für dich."
Bei den Worten kamen ihr beinahe die Tränen. In diesem Moment war Lilith dem Mann unendlich dankbar und bereute ihren Ausbruch von gerade.

"Du musst mir nur eines versprechen, Lilith."
Sie legte den Kopf schräg und versuchte, das Zittern zu verstecken. "Was?"

"Bleib' hier."
Um seine Aussage zu bestätigen, zeigte er mit dem Zeigefinger bestimmend auf den Boden. "Genau hier. Verstanden?"
Lilith nickte eifrig. Er sollte endlich losgehen!

Er drehte sich langsam und bedacht um, hielt währenddessen durchgehend Augenkontakt. Für wie verrückt musste Travis sie wohl halten? Ein paar Sekunden des komischen Blickkontaktes später drehte er sich vollends um und lief schnellen Schrittes los.

Die Zeit, in der er weg war, zog sich von Beginn an und ließ Lilith den Glauben an ihr Zeitgefühl verlieren. Sie saß eine gefühlte Ewigkeit im Gang und zupfte nervös auf der Violine herum. Wo blieb er nur? Wie lange war der Mann schon weg? Irgendwann hielt Lilith es nicht mehr aus und drückte sich aus dem Schneidersitz auf die Beine. Die anderen Soldaten schauten nur schweigend auf, als sie einen Gang nach dem anderen passierte. Das Gebäude war wirklich größer, als es von außen wirkte.

Die Luft war kälter, als vor einigen Stunden und war von der Anspannung der Situation durchdrungen. Lilith war bereits auf dem Rückweg, als erneut ein Beben den Erdboden erschütterte. Dieses war jedoch anders, da es von dem zugehörigen Geräusch begleitet wurde. Als wäre etwas sehr schweres auf die Bauruinen der Stadt gefallen. Auf einmal standen alle Männer aufrecht.

"Er ist hier!", schrie jemand, als ein starker Windstoß durch den Gang wehte. Das konnte nicht normal sein!

Immer mehr Soldaten riefen mit einem Mal wild Dinge durcheinander, die durch den steinernen Gang hallten. Nicht zuletzt dadurch wurden die Fluchtinstinkte in ihr ausgelöst. Lilith rannte, stieß des Öfteren gegen die Wand und andere Menschen. Doch sie hörte nicht auf, zu rennen, da das Geschrei der Männer ihre Ohren zertrümmern zu schien. Irgendwann kam Lilith in einen längeren Gang, an dessen Ende das fahle Tageslicht von draußen hinein fiel. Allein die Aussicht,dieser schrecklichen Situation zu entgehen, gab ihr den Antrieb, ohne nachzudenken ins Freie zu treten.

Sie kam in einer Art Innenhof zum stehen. Die Luft war nur mäßig besser, als in den Gängen der alten Kaserne, doch die Schreie der Menschen waren nun etwas leiser zu hören. Lilith ließ die Violine in den Schnee fallen und stützte sich zum Verschnaufen auf ihren Schenkeln ab, gegen den Schwindel ankämpfend.

Doch Zeit zum Verschnaufen blieb ihr nicht, da der Gang gegenüber von Fackellicht erhellt wurde. Sie richtete sich auf und beobachtete, wie eine Gruppe von Soldaten, allesamt mit Armbrüsten ausgerüstet, den Gang entlang liefen. "Schneller, schneller!", drängte jemand energisch. Die Gruppe bog ausgerechnet in den Hof ab. Ihnen voran lief ausgerechnet der Kommandeur, mit dem Lilith die Festung gestürmt hatte. Er ließ seine Gruppe per Handzeichen halten und kam auf Lilith zu."Du lebst noch, Mädchen. Beeindruckend. Du solltest dich uns wieder anschließen, ehe..."

Melodie des ErwachensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt