Ruhe nach dem Sturm

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Lilith träumte nicht viel. Mal kam hier und da ein Gedankenfetzen, eine kleine Szene spielte sich ab und verschwand wieder. Bekannte und unbekannte Gesichter kamen und gingen.

Manche verblieben in Liliths Gedächtnis, manche verschwanden direkt wieder in der großen Leere. Die große Leere, die eigentlich nicht mehr so groß war. Lilith hatte in den letzten Monaten so viele Erfahrungen gesammelt!

Erst kam sie zu Yuro, dann in das Kloster. Lilith entdeckte eine Kraft, die sie selbst mehr einschüchterte als die anderen Menschen. Sie hatte miterlebt, wie Karthem Opfer eines Angriffs wurde. Dunkelelfen. Wie sehr sie diese Geschöpfe hasste. All diesen Hass hatte auch der Magier zu spüren bekommen. Irgendwie war es gleichermaßen befriedigend und erschreckend, sein Leben beendet zu wissen.

All diese Eindrücke durchfluteten Lilith in unregelmäßigen Abständen und hinterließen gemischte Gefühle.
Dies sollte enden, als sie die Augen aufschlug. Wann war sie eingeschlafen? Das letzte, woran Lilith sich erinnern konnte, war das Wiedersehen mit Coran. Abgesehen davon wusste Lilith nicht recht den Ort zuzuordnen. Wo war sie?
Sie setzte sich auf und ließ den Blick schweifen. Neben ihrem standen noch ein paar andere Betten. Alle waren schlicht gehalten und schienen Krankenbetten zu sein. Die Wände waren weiß, der Boden war aus Holz und Kerzen halfen dem Tageslicht aus, das durch große Fenster an einer Seite hereinfiel. Wann war sie in dieses Krankenzimmer geraten?
"Es ist lange her, dass ich sowas gesehen habe."

Wie lange hatte Meister Tyvel schon am Fenster gestanden? Warum hatte Lilith ihn nicht bemerkt?
"Was gesehen?" Antwortete sie, ihre allgemeine Verwirrung und Desorientierung unterdrückend.
"Du hast ziemlich für Aufregung gesorgt. Etwas, was jeder gesehen hat, ist nur schwer geheim zu halten."
Diese Worte lösten ein Gefühl des Unbehagens in ihr aus. Taric hatte gesagt, dass er ihr vertraute. Dass sie ihn und die anderen niemals verletzen würde. Doch wenn sich das alles herumsprach? Tyvel schien nicht beunruhigt. "Aber das ist eine andere Sache, die klären wir zu einer anderen Zeit." Schloss er ab. Es schien auch nicht des Mannes Lieblingsthema zu sein.

"Wo sind wir?"
"Im Krankenzimmer des Schlosses Karthem. Das Krankenzimmer des Hofes, wenn ich mich nicht irre."
Lilith ließ den Raum mit der gewonnen Information erneut auf sich wirken. So einen Luxus hatte sie lange Zeit nicht erlebt. Und trotzdem nagten viele Fragen an ihr.

"Warum bin ich hier?"
Tyvel drehte sich nun zum ersten Mal wieder zu ihr um. Er sah aus wie immer, als wäre nichts passiert. Und doch war etwas anders. Der Meister wirkte anders. Als hätte die Schlacht ihn um zehn Lebensjahre altern lassen.

"Du bist der Erschöpfung erlegen." Sagte er. "Der Junge hat dich hergebracht." Als Tyvel 'den Jungen' erwähnte, schlug Liliths Herz schneller.
"Ist die Schlacht vorbei?"
Der Mann nickte. "Sie lag bereits in den letzten Zügen, als sie dich wegbrachten." Also schien ihre Einschätzung richtig gewesen zu sein.

"Es war nicht die letzte Schlacht." Sprach Lilith den Gedanken aus, der ihr gerade am meisten Sorgen bereitete.
Tyvel schüttelte den Kopf. "Nein, das war es nicht."

Er stand noch eine Weile dort und wandte sich irgendwann zur Tür. Diese war mit Inschriften und Siegeln des Königreichs versehen, wie viele andere Dinge in diesem Raum. "Es wartet viel Forschung auf mich."
Lilith widersprach nicht und schwieg. Tyvel drückte die Tür auf und ließ diese hinter sich zufallen, ohne ein weiteres Wort. Noch eine Weile saß Lilith aufrecht im Bett und keiner kam.

Es schlug gerade Mittag, als Lilith erneut aufwachte. Dies allerdings nicht zufällig. Hinter der geschlossenen Tür konnte sie Stimmen vernehmen. Ein Mann diskutierte mit jemandem, er klang aufgeregt und nicht gerade gut gelaunt.
"Ich habe nichts mehr mit ihm zu tun!" Kam es einmal sehr laut hinter der Tür hervor. "Nein, darüber reden wir gar nicht!"

Melodie des ErwachensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt