I. Die große Stadt - 1: Ankunft

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Schon eine ganze Weile fährt dieser Zug durch das Nichts. Seit dem kleinen Bahnhof, von dem Mike losgefahren ist, hat es keine anderen Dörfer oder Städte in der Nähe der Strecke gegeben.

„Endlich bin ich raus aus dieser elenden Pampa...", zischt er innerlich vor sich hin. Die kleine Stadt aus der er kommt ist, wie alles hier, abgeschnitten vom Rest der Welt. Nur der Warenzug, der wöchentlich kommt und dann wieder verschwindet, verbindet die Städte und Dörfer. Dazwischen liegt lediglich eine unbewohnte Einöde. Endlose Grassteppen, Wüsten oder Wälder, aber seit Stunden keine bewohnte Siedlung. Es war die richtige Entscheidung das verschlafene Niemandsland zu verlassen, um in der großen Stadt sein Glück zu versuchen. Mike legt seinen Kopf gelangweilt zurück. Die Sitze sind unbequem und dienen wohl eher der Zweckmäßigkeit als dem Komfort. Er ist, abgesehen vom Lokführer, der einzige Mensch in dem Zug und mit dem kann er nicht reden. So fristet Mike, seit widerwärtig langen Stunden, seine Einsamkeit. Nervös streicht er sich durch seine dunkelbraunen Haare. Das bohrende Gefühl von Langeweile gräbt sich immer tiefer in seinen Kopf, aber die große Stadt ist es wert, einige Stunden Reise auf sich zu nehmen. Er sieht ein weiteres Mal verschlafen aus dem Fenster - endlich! In der Ferne sind die hohen, dunkelgrauen Stadtmauern, die Wolkenkratzer, und Rauchschwaden der Fabriken zu sehen. Doch auf den zweiten Blick stockt Mike der Atem. „Die große Stadt" ist wörtlicher zu nehmen, als man es erwarten würde. Die Stadt erstreckt sich scheinbar endlos in den Horizont. Je weiter man sieht, desto größer wird die Stadt. Der Zug fährt an der Ostmauer vorbei, die Südmauer entlang. Aufgeregt wippt Mike in seinem Platz. Doch leider ist ihm das Ausmaß der Stadt nicht wirklich bewusst, da die Weite von der Ost- zur West-Mauer grob zweihundert Kilometer beträgt - wenn nicht sogar mehr. Bis zum Bahnhof der großen Stadt ist immer noch mehr als eine Stunde Fahrzeit, da er mittig an der Südmauer liegt. Mit jeder Minute die er warten muss, wird Mike unruhiger. So unruhig sogar, dass er anfängt im Wagon auf und ab zu laufen.

Nach einer weiteren Stunde bleibt der Zug stehen. Das Gesicht mit der rechten Wange fest an die Scheibe der Tür gepresst, wartet Mike darauf, dass sich die Tür öffnet. Gierig nach dem was ihn erwartet, schleckt er an der Scheibe. Plötzlich ertönt eine Durchsage in einer gelangweilten, weiblichen Stimme: „Sehr geehrter Fahrgast, aufgrund technischer Probleme kann die Tür nicht geöffnet werden. Unser technischer Support wird sich schnellstmöglich darum kümmern. Bitte haben sie noch etwas Geduld. Es wird voraussichtlich achtundvierzig Stunden dauern. Vielen Dank für Ihr Verständnis, auch wenn sie keines haben."

Mikes Stirn nimmt die Form des Grand Canyons an und sinnbildlicher Dampf strömt aus seinen Ohren, buchstäblicher Dampf hingegen aus seiner Nase. Er hebt sein Bein und tritt kräftig zu, woraufhin sich die Türen des Zuges mehrere Meter entfernt am Bahnhof wiederfinden.

Eine weitere, gelangweilte Durchsage erklingt: „Wir wünschen Ihnen einen schönen Aufenthalt in der Stadt. Bitte verlassen Sie meinen Zug. Ich hoffe Sie sterben bevor sie eine Rückfahrt buchen... die schöne Tür..."

Schnellen Schrittes verlässt er den Zug.

Da steht er nun, vor den Toren der Stadt. Bis auf Mike und die kaputten Zugtüren ist niemand am Bahnhof. Mike streicht sich durch seine dunklen, aufgestellten Haare und zieht sich seine Lederjacke, die er die Fahrt über neben sich liegen hatte, über sein weißes Shirt. Anschließend überprüft er, ob sich sein Geldbeutel noch in seiner Hosentasche befindet und geht schließlich auf den Torbogen zu. Er ist endlich da! Aufgeregt rennt er durch einen schwach beleuchteten Tunnel, der durch die Mauer verläuft, in die Stadt hinein und gelangt auf einen Schrottplatz -

„Was ist das denn!?", fragt sich Mike aufgebracht.

Die große Stadt mit den Wolkenkratzern und allem drum und dran und das erste, das man sieht, wenn man reinkommt, ist eine Müllhalde voller Autowracks, verfallenen Häusern und Altmetall.

„Wo bin ich denn hier hingeraten?", flüstert sich Mike verwirrt selbst zu.

Er stapft einige Schritte durch den Abfall, doch ihn beschleicht das Gefühl beobachtet zu werden. Er bleibt stehen und lauscht nervös nach Schritten. Diese Stadt ist unheimlicher als er erwartet hatte. Der Bahnhof liegt außerhalb, hier ist alles verwüstet und jemand scheint ihn zu verfolgen. Mike richtet seinen Kopf wieder nach vorne, doch sowie er zu seinem nächsten Schritt ansetzen will, ertönt hinter ihm ein lautes Poltern. Ein Haufen Altmetall ist umgestürzt, und inmitten des Blechschrotts stehen ein verfluchter Eisbär in einer Metallrüstung, ein Ninja im silbernen Gewand und ein langhaariger, schick weiß gekleideter Mann, dessen offener Mantel fast bis zu seinen Knien reicht und zusätzlich ein Schwert an einem schwarzen Gurt und ein weiteres am Rücken trägt. Der Bär kassiert erstmal einen Hinterkopfschlag vom weiß Gekleideten, woraufhin Mikes Körper von einer Druckwelle durchströmt wird. Dieser Schlag hat die Luft zum Beben gebracht! Mike ging einen Schritt zurück. Diese Typen müssen unnatürlich stark sein, wenn eine Nackenschelle so viel Druck aufbaut, dass man es spürt.

„Polar, du nutzloser Flohteppich. Jetzt hat uns dieser Fremde bemerkt. Du bist ein Trampel ohnegleichen!", kreischt der Schwertmeister erzürnt.

„Tut mir Leid, Boss!", antwortet ihm der Eisbär beschämt.

„TuT mIr LeId, BoSs...", spottet er, „diesen Scheiß kannst du dir sonst wo hin stecken, du Amateur."

Der Ninja schweigt. Der Schwertkämpfer räuspert sich.

„Nun denn, was suchst du hier, du Schwachmat", fragt er Mike höhnisch.

„Schreibt euch eins hinter die Ohren, mein Name ist Mike! Und ich wollte eigentlich zur Zivilisation. Die bessere Frage ist doch: was wollt ihr Witzfiguren von mir?"

Der Schwertkämpfer setzt ein breites, verschlagenes Grinsen auf.

„Ich bin Wolf, der Anführer der Gruppierung White Fang und du bist in einem unserer Viertel. Wir tolerieren keine Fremden –ergib dich, verneig und tritt und bei – dann bist du kein Fremder mehr. Dann lassen wir dich laufen."

Mike verzieht sein Gesicht.

„Sehr nettes Angebot, aber nein danke. Mit euch Freaks brauch ich nichts zu tun haben", zischt er.

„Schade...", lächelnd sieht er zum Eisbären, „Polar, du kriegst eine zweite Chance, bring den respektlosen Fremden um."

Der Bär nickt und rennt auf Mike zu. Dieser zieht aus dem Inneren seiner Lederjacke einen Metallstab, der sich auf Knopfdruck auf sein Dreifaches verlängert. Mit seiner Pranke schwingt der Bär nach Mike, welcher grinsend in die Luft springt, die Tatze des Bären im Sprung mit dem Stab wegschlägt und ihm dann aus der Bewegung heraus in sein Maul tritt. Der Bär kippt nach hinten um, Mike hingegen landet auf seinen Füßen, wirbelt einmal provokativ seinen Stab herum und grinst siegessicher.

„Polar, du bist so jämmerlich! Gedemütigt von einem Namenlosen aus dem Niemandsland. Geh mir aus den Augen!"

Wolf schüttelt enttäuscht den Kopf. Schluchzend zieht sich Polar auf allen Vieren zum Ninja zurück.

„Nun denn, Fremder-"

„Ich heiße Mike! Geht das in deinen Schädel?"

„Nun denn, Maaaaiiiiik", spottet er wieder grinsend, „Jetzt zeige ich dir, was die Stadt mit Amateuren wie dir eigentlich macht."

Er zieht langsam mit seiner Rechten das Schwert, dessen Klinge golden im Sonnenlicht glänzt, von seinem Gurt und zeigt damit herausfordern auf Mike. Letzterer lächelt nur verwegen zurück.

Chaos City - Staffel 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt