Ungleiche Schwestern

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Ostia, der Hafen von Rom

Claudia wusste schon immer, dass ihr Vater sich für sie schämte. Dass ihn das einmal dazu verleiten würde, sie ans andere Ende der Welt zu schicken, damit hatte sie allerdings nicht gerechnet.

Nacht lag über Ostia. Der Hafen war wie leergefegt, die meisten Seeleute hatten sich längst auf ihre Schiffe oder in eine der Hafenspelunken zurückgezogen. Nur ein paar Sklaven schoben Nachtwache. Ab und zu hörte man ihre Stimmen von den Fässern am anderen Ende der Docks. Sehen konnte man sie im aufziehenden Nebel nicht, die Öllampen, die entlang des Stegs brannten, reichten nicht so weit.

Claudia stand an die Reling gelehnt und beobachtete ihre Schwester am Ufer. Sogar in einer Situation wie dieser, wenn man sie in aller Hast und Heimlichkeit aus der Stadt schaffen wollte, wahrte Veronika Haltung. In ihrem nachtblauen Umhang und dem Schleier, der ihr Haar zur Hälfte verdeckte, sah sie aus wie eine Göttin auf der Flucht. Marcus Aulus stand ihr gegenüber und hielt eine Hand an ihre Wange. Noch von ihrem Platz aus hörte Claudia das gezierte Lachen ihrer Schwester, als er sich vorbeugte und ihr die Stirn küsste. Am liebsten hätte sie sich übergeben.

Es war Marcus zu verdanken, dass Veronika vergleichsweise gute Laune hatte. Noch bevor sie gestern vom Forum zurückgekommen war, hatte ihr Vater ihren Verlobten von den Vorkommnissen in seinem Haus in Kenntnis gesetzt. Die beiden waren recht schnell übereingekommen, dass es für Veronikas Ruf besser wäre, sie mit Claudia gehen zu lassen. Von Trennungsschmerz war bei Marcus nicht viel zu sehen gewesen. Im Gegenteil, er schien ganz erpicht darauf, seine zukünftige Ehefrau von den Versuchungen Roms fernzuhalten, bis sie unter seiner Kontrolle stand.

Claudia erinnerte sich noch heute an seine Worte, damals auf dem Gastmahl, das ihr Vater anlässlich von Veronikas Verlobung gegeben hatte: Ich brauche eine Ehefrau, auf die ich mich verlassen kann. Die an meiner Seite steht und ihren Platz kennt. Ehrhaft, rein, bescheiden und sittsam. Eine wahre Römerin. Und ich danke den Göttern, dass sie mir in Veronika eine solche Frau geschenkt haben.

Sie ballte die Hand zur Faust. Ja, Veronika war die perfekte Ehefrau für ihn. Eine, die sich von Status und einem hübschen Äußeren blenden ließ, die ihn anhimmelte. Eine Ja-Sagerin, deren Lebensziel darin bestand, das Muster einer Gattin zu werden. Eine, die er verprügeln könnte und die alle Schuld dafür trotzdem immer noch bei sich selbst suchen würde.

Schon immer hatte es Veronika darauf angelegt, die Beste zu sein. In allem, vom Weben über die Art wie sie sich kleidete und die Konversationen, die sie führte. Stets lächelnd, stets geduldig.

Neben ihr hatte Claudia nur versagen können. Als Kind war es ihr schwer gefallen, Veronika für ihre Perfektion nicht zu hassen. Doch mittlerweile glaubte sie nicht mehr, dass ihr Neid damals wirklich gerechtfertigt gewesen war. Gerade weil Veronika in sämtlichen Tugenden einer römischen Frau so perfekt war, hatte Claudia erkennen müssen, dass sie in ihrem Schatten nie Beachtung finden würde, wenn sie versuchten, denselben Weg zu gehen.

Also hatte sie einen neuen gewählt. Während Veronika stickte, hatte sie Platon gelesen. Während Veronika mit ihren Freundinnen vornehme Spaziergänge in ummauerten Gärten unternahm, hatte sie sich mit dem Sohn des Gewandmachers im Circus heimlich Wagenrennen angesehen. Während Veronika beschloss, die vorbildlichste Frau Roms zu sein, hatte sie beschlossen glücklich zu werden.

Während Veronika die Regeln verkörperte, hatte Claudia sie gebrochen.

Für ihren Vater stellte ihr Verhältnis zu Titus den Höhepunkt in einer langen Reihe aus Eskapaden dar. Dabei hatte Claudia einfach nur beschlossen, sich zu verlieben. So wie Veronika irgendeinen reichen Senator zugewiesen zu bekommen, um dann ein paar Jahre später im Kindbett zu sterben, das war nicht ihr Weg. Seit sie die Ars Amatoria gelesen hatte, wusste sie, dass es mehr geben musste als arrangierte Ehen. Sie hatte sich ihren Mann selbst wählen wollen. Dass ihre Wahl ausgerechnet auf einen freigelassenen Sklaven fiel war vielleicht auch ein wenig Trotz gewesen. Dennoch, sie liebte Titus und sie würde ihn heiraten, ganz egal wo auf der Welt ihr sie Vater verstecken wollte. Sie würden einen Weg finden. Womöglich lag im Unglück ja sogar eine Chance. Alles kam jetzt auf Titus und seinen Plan an.

VeronikaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt