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Sie war wieder in ihrem Zimmer.

Teilnahmslos, reglos, noch immer in ihren staubigen Kleidern, lag sie auf ihrem Bett und starrte aus dem Fenster zum Hügel auf der anderen Seite der Stadt.

Sie wartete. Veronika wusste selbst nicht auf was.

Claudia, die Frau des Pilatus, kam, um mit ihr zu reden, nach ihren Verletzungen zu sehen und sie aufzuheitern, doch Veronika sprach nicht mit ihr und so gab sie es bald wieder auf und ließ sie allein. Tatsächlich sprach Veronika mit niemandem mehr. Nicht mit Pilatus, der kam und versprach, ihre Schwester zu finden, nicht mit ihren Dienerinnen, nicht mit Ravenna, die ihre Herrin noch nie so merkwürdig erlebt hatte.

„Sie ist vollkommen verstört!", hörte sie Pilatus vor ihrer Tür zu seiner Frau sagen, „Kein Wunder, bei dem, was sie erlebt hat. Antonius schickt mich auf die Galeere, wenn er erfährt, dass seine Tochter bei einer Kreuzigung zugeschaut hat!"

Veronika zog die Knie an die Brust, formte ihren Körper zur Kugel. Durch das trübe Spiegelglas auf der anderen Seite des Zimmers schaute sie ihr eigenes blutverschmiertes Gesicht an. Ihr war kalt. Jeder ihrer Muskeln schmerzte vor Taubheit. Sie konnte nicht aufstehen und baden. Sie konnte sich nicht zudecken, nicht den Sand aus ihren brennenden Augen waschen. Die Glieder waren ihr schwer, wie vor einer Erkältung.

Gleichzeitig zerrte etwas an ihrer Brust, eine Sehnsucht, bohrender als Hunger. Sie wollte in den Arm genommen werden. Sie wollte festgehalten werden, ihren Kopf anlehnen, die Wärme eines anderen fühlen...

Du bist allein. Da war eine Stimme in ihrem Kopf. Deine Eltern sind einen Ozean entfernt, sie haben dich weggeschickt. Deine Schwester hat dich verlassen und dein Verlobter...Hast du nicht genug gesehen, um zu erkennen, wer er wirklich ist? Es ist niemand da, der dich lieben könnte. Nur du. Aber das hat dir doch sonst immer gereicht? Du bist die Beste. Du brauchst niemanden. Nur dich. Nur dich allein.

Sie dachte an den Mann unter dem Kreuz, an seinen Blick und die Wärme darin, ein Feuer, das nicht verbrannte.

Was willst du von dem Toten? Die Stimme war nun fast ärgerlich. Er ist besiegt. Haben sie nicht von seinem Grab gesprochen, als sie deinen Schleier nahmen?

Ihr Schleier. Er war das einzig greifbare ihrer Begegnung. Der Beweis, dass sie wirklich geschehen war, das Einzige, an das sie sich klammern konnte. Ihre Hände öffneten und schlossen sich. Veronika griff in die Luft, bis ihr einfiel, dass sie das Tuch verschenkt hatte.

Der Verlust traf sie so schmerzhaft, dass sie schreien wollte. Sie fühlte sich wie ein Kind, dem man das Kleidungsstück der Mutter, das es zum Einschlafen brauchte, weggenommen hatte.

Ein Kind, flüsterte die Stimme, mittlerweile ein schrecklicher Singsang. Ein Kind, allein in der Finsternis.

Veronika schlang die Arme fester um die Knie. Ihr war kalt. So kalt.

In der Ferne rollte ein Donner heran. Über der Stadt war der Himmel noch blau, doch jenseits der Mauern hatte sich der Horizont verdunkelt. Eine Wand aus Wolken schob sich auf Jerusalem zu, so dicht und schwarz, wie es Veronika noch nie gesehen hatte. Sandstürme, die aus den umliegenden Wüsten heraufzogen, gab es hier nicht selten, doch so eine Finsternis schien ihr unnatürlich. Sie war unnatürlich.

Denn wie die Vögel, die in der Dämmerung stets lauter sangen, bevor sie der Einbruch der Nacht zum Schweigen zwang, stemmten sich auch andere gegen ihr Ende. Diese Dunkelheit war kein Zeichen der Macht, sondern der Verzweiflung. Es war das letzte Aufbäumen der Finsternis im Angesicht ihres Untergangs.

Auch in Veronikas Gemächern wurden die Schatten länger. Sie lösten sich von den Wänden ihres Gemachs, krochen über den Steinboden und bis in ihr Bett, doch bevor sie Veronika erreichten, stand sie auf und trat hinaus auf ihren Balkon.

Draußen war der Tag zur Nacht geworden. Alle Dunkelheit der Welt schien sich plötzlich auf einen Punkt zu konzentrieren und Angst schloss sich um Veronikas Herz wie eine kalte Faust.

Zuerst kam der Sturm. Heißer Wind blies ihr entgegen, als sie den Kopf hob, trocknete ihre Lippen aus und zerrte an ihren Kleidern. Die Vorhänge ihres Himmelbetts flatterten und wickelten sich um die Torbögen zum Balkon, aber Veronika wollte nicht nach drinnen gehen. Ihr Blick war auf den Felshügel gerichtet, wo sie noch vor kurzem selbst gestanden hatte.

Minuten vergingen, vielleicht Stunden. Um sie herum verdichtete sich die Finsternis, die Sonne verschwand hinter schwarzem Staub. Ihre Hände schlossen sich um das Balkongeländer, krampfhaft, bis die Knöchel weiß hervortraten.

Dann wurde es still. Die Geräusche der Stadt verstummten, schienen verschluckt zu werden, von der Wand aus Dunkelheit. Hoch über ihren Köpfen zuckte ein Blitz.

Es ist vorbei, hatte Joseph von Arimathäa gesagt.
In diesem Moment wusste Veronika, dass er Recht hatte.

Ein Tropfen fiel auf ihre Hände. Aber es war kein Regentropfen. Veronika weinte, zum ersten Mal seit langer Zeit und in den leeren Gassen, wo die Stille schwer in der Luft hing, hallte ihr Schluchzen wider, wie eine hundertfach verstärkte Totenklage.

Es war die neunte Stunde.

Es war die neunte Stunde, Claudia, Lydia und Titus fuhren dem Meer entgegen, mit jedem Meter näher an ihrer Freiheit.

Es war die neunte Stunde, im Tempel riss der Vorhang entzwei und Veronika sank im Palast des Stadthalters weinend zu Boden.

Es war die neunte Stunde und draußen vor den Mauern Jerusalems starb ein Mensch.

Starb Gott.

VeronikaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt