Heimlichkeiten

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Jerusalem, Donnerstag 5. April 30

Veronika hatte weniger als eine Woche gebraucht, um zu erkennen, dass Jerusalem eine absolut langweilige Stadt war.

Sie verstand weder die Sprache der Einheimischen, noch ihre seltsamen Bräuche und war insgeheim froh, dass Pilatus ihnen so selten erlaubte, den Palast zu verlassen. Hier innerhalb der Festungsmauern konnte sie wenigstens noch so tun, als sei sie in Rom.

Es stimmte, was ihr Gastgeber bei ihrer Ankunft gesagt hatte, die Gärten seiner Frau waren wirklich schön. Ihre Zimmer hatten Balkone, von denen aus sie hinab auf einen großen Innenhof sehen konnten. Entlang der Mauern standen Palmen, Orangen und Pfirsichbäume Spalier, sodass man in ihrem Schatten auch mittags, wenn die Hitze auf den Straßen schon unerträglich war, spazieren gehen konnte. In der Mitte des Hofes befand sich ein Wasserbecken gesäumt von steinernen Nixen und Delfinen. Exotische Blumen wuchsen auf dem Rasen darum herum. Jetzt, am frühen Abend, hingen Laternen in den Zweigen und von irgendwoher waren Zikaden zu hören.

Sie selbst lag unter einem Baldachin aus weißen Tüchern, die sich im Luftzug kräuselten. Eigentlich stickte sie an einer Darstellung der neun Musen, doch gerade war sie abgelenkt.
Ihre Schwester kam zwischen den Bäumen auf sie zu. Sie war hübsch zurechtgemacht, in einem zitronengelben Kleid aus mehreren Schichten hauchdünner Seide, das den Eindruck machte, als würde sich Wasser um ihren Körper schmiegen. Durch ihr Haar wand sich ein goldenes Band und sie hatte sich eine Handvoll rosa Blüten wie ein Diadem über die Stirn gesteckt.

„Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, die Göttin Venus persönlich ist gekommen, um in diesen Gärten zu wandeln", sagte Veronika als sich ihre Schwester neben sie in die Kissen sinken ließ.

Claudia zögerte, für einen Moment sah sie skeptisch aus. Veronika verteilte nicht übermäßig oft Komplimente an ihre Schwester, das wusste sie selbst. Doch in Anbetracht ihrer Lage und der Tatsache, dass sie hier in der Fremde niemand anderem als Claudia vertrauen konnte, hatte sie beschlossen, die dauerhaften Streitereien einzustellen. Es schickte sich nicht für eine römische Dame, über längere Zeit mit ihrer Schwester im Streit zu liegen, auch wenn die Schuld an ihrer Miesere war. Mal davon abgesehen: Claudia sah heute wirklich ungewöhnlich schön aus. Viel schöner als sonst, wenn sie sich rein gar nichts aus ihrem Äußeren zu machen schien. Jeder anderen Frau hätte sie dafür auch ein Kompliment gemacht.
Und trotzdem blieb ein gewisses Misstrauen. Es gehörte zu Claudias größten Fehlern, sie ständig zu unterschätzen. In den Augen ihrer Schwester war sie nichts weiter als eine arrogante, dumme Senatorentochter. Der in griechischer Literatur gebildeten Claudia weit unterlegen. Aber Dummheit hin oder her. Sie hatte trotzdem den Zettel gesehen, den Lydia ihrer Schwester vorhin so unauffällig zugesteckt hatte.

Irgendwas hatte Claudia vor. Und sie würde herausfinden, was es war.

Einen Moment schien Claudia noch zu überlegen, ob ihre Schwester es wirklich ernst meinte. Dann aber lächelte sie. „Ich habe mir an dir an Beispiel genommen, Schwesterchen", sagte sie zwinkernd. „In Zukunft schicke ich mich an, eine ebenso feine römische Dame zu werden wie du."

Veronika hob die Brauen. „Tatsächlich? Eine römische Dame? Oder liegt deine Verwandlung vielleicht eher an der Nachricht von Lydia? Gute Neuigkeiten?"

Claudias Lächeln war augenblicklich wie weggewischt. „Nachricht? Was meinst du...?"

„Du weiß genau, was ich meine." Oh, sie liebte es, wenn sie Claudia auf dem falschen Fuß erwischte. „Ich habe gesehen, wie ihr vorhin im Atrium aneinander vorbeigelaufen seid. Der Zettel..." Veronika verlieh ihrer Stimme absichtlich einen scharfen Unterton. Sie hatte schon seit einer Weile vermutet, dass Claudia wieder irgendwelche Geheimnisse ausheckte und ihre Nervosität bestätigte diese Vermutung nur.

VeronikaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt