Der andere Bräutigam

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Veronika rannte.

Sie spürte den Sand zwischen ihren Sandalen. Spürte wie sie immer wieder einsank. Wie ihre Beine mit jedem Schritt schwerer wurden. Doch sie rannte weiter. Unbeirrt. Dem Meer entgegen.

Der Saum ihres Kleides zog sie nach unten als sie ein paar Meter ins Wasser watete und sich in das Boot schwang. Wellen klatschten gegen das Holz, doch ihr Atem war lauter. Sie keuchte und in ihrer Lunge fühlte sie ein Stechen, wie sie es nie gespürt hatte.

Ihre Hände wurden fahrig während sie den Innenraum nach den Rudern absuchte. Sie tauchte sie neben sich ins Wasser und stieß sich vom Ufer ab.
Die ersten Meter waren wackelig, Veronika kämpfte mit der Balance, doch nach ein paar Zügen fand sie den Rhythmus.

Sie war schon mindestens zwanzig Meter auf dem offenen Meer als sie endlich inne hielt. Der Atem stach ihr in die Rippen, ihre Zähne klapperten und ihr Herz hämmerte gegen ihren Brustkorb, dass sich die einzelnen Schläge fast überholten.
Sie schnappte nach Luft. Langsam, Atemzug um Atemzug kam sie zur Ruhe. Es war als würde sie zum ersten Mal seit sie das Haus verlassen hatte wieder klar denken können, der Fluchtinstinkt, den ihr Körper aktiviert hatte, zog sich zurück.

Was tust du hier eigentlich?

Die Frage traf sie mit voller Wucht. Veronika hielt inne, die Ruder neben ihr hingen nutzlos in der Luft als sie den Kopf hob und zurück zum Haus auf den Klippen sah.
In den Fenstern leuchteten Fackeln, das Licht sprang auf und ab, es wurde gekämpft. Dazu hörte sie Waffen und das Schreien eines Kindes.
Lucius!
Sie mochte sich nicht ausmalen, was dort passierte. Vielleicht starben in Claudias Haus gerade Menschen. Um ihretwillen.

Flieh, hatte ihre Schwester gesagt und sie hatte gehorcht, ohne nachzudenken, wie schon beim letzten Mal als sie Markus auf dem Bankett des Kaisers davongelaufen war.
Hätte sie das wirklich tun sollen? Hätte sie das überhaupt gedurft?

„Herr!" Der Anruf war ihr so selbstverständlich geworden wie ihr Atem. Er klärte ihre Gedanken innerhalb weniger Sekunden. „Hilf mir. Ich kann nicht zurück zu Markus, du weißt es. Aber ich kann doch auch nicht verschwinden und meine Schwester für mich sterben lassen. Was soll ich tun? Herr, was soll ich tun?" Sie hatte die Worte gesprochen wie ein ängstliches Kind.

Um sie herum war Stille. Nur leichte Wellen bewegten das Boot. Die Nacht war so klar, dass man alle Sterne sehen konnte und hinter der Horizontlinie zeigte sich schon die Morgenröte. Veronika schaute zu den Sternen auf, suchte irgendeinen Anhaltspunkt, irgendein Zeichen, eine Botschaft...

Das Zeichen blieb aus. Und doch...da war eine Präsenz, die sich in ihr ausbreitete und sie erfüllte... Ihr Herzschlag beruhigte sich, ihre Gedanken wurden klar und mitten in diesem Frieden, der durch ihren Körper strömte, wusste sie es.
Sie hörte keine Stimme, es war auch kein Gefühl und ein Beobachter hätte sicher keinerlei Veränderung bemerkt, doch trotzdem...

Plötzlich stieß etwas gegen ihr Boot. Als sie den Kopf drehte und unter sich in die Tiefe blickte, sah sie, dass ein abgerissener Palmzweig neben ihr im Wasser trieb.
Da war sie, ihre Antwort.

„Nein." Veronika zitterte. „Nein, Herr, das kannst du nicht von mir verlangen. Ich weiß nicht wie-"
In ihrer Brust wand sich ein Knoten, der sich langsam ausbreitete und bis in ihre Kehle stieg. Angst, ein Gefühl, das sie lange nicht mehr richtig gespürt hatte schnürte ihr den Hals zu. Ihre Hände lösten sich von den Rudern. Sie ballte sie zu Fäusten, um das Zittern zu schwächen, das jetzt durch ihren Körper ging. „Nein. Bitte. Nein."

Die Angst schien sie zu lähmen und gleichzeitig zum Fliehen zu drängen. Sie rang mit sich. Krümmte sich im Boot vor und zurück als habe sie körperliche Schmerzen. „Du kannst mich nicht zwingen!", rief sie, schon halb im Weinen und noch während sie den Satz laut aussprach, wusste sie, dass er dumm gewesen war.

Natürlich, er konnte sie nicht zwingen. Und das würde er auch nicht. Nichts war ihm kostbarer als ihre Freiheit. Es war ihre Entscheidung, ihre allein.

Wieder sah sie nach oben zum Haus. Dann wandte sie den Kopf und blickte hinter sich auf das offene Meer. Wie lange würde es dauern, bis sie in der Bucht war, von der Claudia gesprochen hatte? Sicher nicht länger als eine halbe Stunde. Das konnte sie schaffen. Und dann? Sie musste sich nach Rom durchschlagen, vielleicht sogar weiter, zurück nach Jerusalem, nach Alexandria oder Korinth. Gleich welches Ziel sie wählte, es würde ein langer Weg werden, schwierig, aber nicht unmöglich. Ihre Chancen sanken allerdings mit jeder Minute, die sie zögerte...

Haus, Meer, Haus, Meer...Beide Wege lagen vor ihr wie aufgezeichnet. An einem Ende erwarte sie Ungewissheit, am anderem wusste sie ganz genau, was auf sie zukommen würde...

...Gleich welchen Weg du wählst, ich werde mit dir gehen...

Sie fühlte die Worte, spürte die Wahrheit in ihnen, als sie in ihrem Bewusstsein widerhallten.

...Erinnere dich: Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt. Ich lasse dich nicht fallen...

Veronika atmete aus. „Gut..." Ein letztes Mal sah sie zum Haus hinauf, bevor sie die Hand ausstreckte und nach den Rudern griff. „Dann lass uns gehen, Herr."

VeronikaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt