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Es dauerte fast zwei Monate bis Veronika wieder vor Pilatus gerufen wurde.
Sie hatte die letzten Wochen allein mit ihren Dienern verbracht, Pilatus und auch seine Frau hatten sie gemieden und Veronika war zu keiner offiziellen Veranstaltung mehr eingeladen worden, hauptsächlich aus Angst, sie könnte plötzlich verschwinden wie ihre Schwester.

Erwartungsgemäß war Antonius nicht begeistert gewesen, als er von Claudias Flucht erfahren hatte. In den Nachrichten, die er mit Pilatus tauschte, wurde die ungünstige Lage deutlich, in der er steckte. Er konnte Claudia nicht offiziell suchen lassen, sonst wäre sein Ruf beschädigt. Ein Konsul, der nicht einmal seine eigene Familie unter Kontrolle hatte, war ein gefundenes Fressen für alle politischen Gegner. Im Moment blieb Antonius daher nichts anderes übrig, als zu behaupten, beide seiner Töchter befänden sich noch wohlbehalten in Jerusalem und mit seinen eigenen Männern heimlich nach Claudia zu suchen.

Bei all der Verwirrung schwieg Veronika. Sie hätte es ihnen sagen können. Eine kurze Erwähnung von Titus oder der Insel Capri und Claudias Versteck wäre nicht mehr lange geheim. Früher hätte sie keine Sekunde gezögert. Aber heute...?
War es das wert, das Glück ihrer Schwester für die Ehre ihrer Familie zu opfern? Was war überhaupt Ehre? War es Ehre, sich über Menschen wie Titus erhaben zu fühlen? War es Ehre Menschen zu töten, um seine Macht zu behalten?

Immer wieder kamen ihr die Bilder dieser Kreuzigung in den Sinn. Sie dachte den ganzen Tag daran und bei Nacht hatte sie Albträume. Oft versuchte sie, an ihre Rückkehr nach Rom zu denken, an ihre Hochzeit mit Markus. Aber die Freude, die sie früher bei dem Gedanken empfunden hatte war weg.
Überhaupt schien sie nichts mehr zu fühlen. Sie freute sich an nichts mehr, nicht an Blumen, schönen Kleidern oder an Musik. Die Welt schien ihr fern, als sei sie unter Wasser und erlebe alles nur noch verschwommen und gedämpft.
Gleichzeitig sah sie andere Dinge klarer. Sie hatte immer geglaubt, dass sie herrschen wollte. Einfluss nehmen, tugendhaft sein, um Rom zu ehren. Aber ihre Schwester war klüger gewesen.
Du willst geliebt werden, hatte Claudia immer gesagt, wenn sie ihr einen ihrer verächtlichen Blicke zugeworfen hatte. Und du glaubst, man kann dich nur lieben, wenn du perfekt bist. Erst wenn du deine Rolle als perfekte Römerin, Ehefrau, Tochter erfüllst, denn das macht dich liebenswert. Du bist süchtig nach Lob und nach Bestätigung. Niemand hat dir gezeigt, dass man einen Menschen auch so lieben kann, einfach um seiner Person willen, bedingungslos. Das ist die Liebe, wie sie sein sollte. Was du jagst, ist ein Schatten. Du hast wahre Liebe nie erlebt.

Das stimmt nicht ganz, dachte Veronika. Wieder dachte sie an die Kreuzigung. Der Mann hatte sie nur kurz angesehen, aber in seinem Blick war mehr gelegen als sie jemals würde beschreiben können. Er hatte sie durchschaut, er hatte alles gesehen, ihre Vergangenheit, ihre Gegenwart, bis in ihr Herz. Sie zweifelte keinen Moment daran, dass es so gewesen war, auch wenn sie es sich nicht erklären konnte, sie hatte es gespürt.
Dieser Mann hatte ihre Abgründe gesehen und war trotzdem nicht vor ihr zurückgewichen. Er wusste, wer sie war und dennoch hatte sie in seinem Blick nichts als Akzeptanz gesehen, nichts als Liebe.
Ja, sie hatte so etwas nie zuvor erlebt. Und es ließ sie nicht mehr los.

Veronika hatte keine Ahnung wieso man sie vor den Stadthalter gerufen hatte und es interessierte sie auch nicht besonders. Vielleicht sollte sie nach Rom zurück. Was auch immer es war, sie konnte es nicht verhindern. Veronika war nicht Claudia, immer schon war über ihr Leben bestimmt worden und auch wenn sie sich mittlerweile wünschte, Markus nicht heiraten zu müssen, niemand würde darauf Rücksicht nehmen.

Erst als sie in der Empfangshalle ankam sah sie zum ersten Mal hoch.
Neben ihr saß Pilatus auf seinem Marmorstuhl. Er bemühte sich nicht um eine Begrüßung, seine Finger tippten auf die Armlehnen und sein Blick fixierte einen jungen Mann, der ein paar Meter vor ihm in der Mitte der Halle stand.

Veronika hob die Brauen und zum ersten Mal schien in ihrem Kopf etwas aus seiner Starre zu erwachen. Sie kannte diesen Mann. Es war der gleiche, der bei der Kreuzigung neben ihr gestanden hatte.

Ohne auf Pilatus' Erlaubnis zu warten, ging sie ein paar Schritte auf ihn zu. Er sah besser aus als noch vor einigen Wochen, nicht mehr so bleich, nicht mal mehr traurig.
Sollte er nicht trauern?

In seinen Händen hielt er ein Stück Stoff, fein säuberlich gefaltet, sodass die Blutflecken auf der Innenseite kaum auffielen.

Mein Schleier...
Sie sah auf. „Wer seid Ihr? Und was wollt Ihr von mir?"

„Mein Name ist Johannes", sagte der Mann, „Ich habe etwas, das Euch gehört" Er steckte die Arme aus und hielt ihr das Muschelseidetuch entgegen.

Ihr Blick wanderte von ihrem Schleier über sein Gesicht, bis sie schließlich realisierte, dass er Latein mit ihr gesprochen hatte. Akzentfrei.
Das hatte er doch damals nicht gekonnt, oder?
„Ihr sprecht Latein?"

„Ich spreche alle Sprachen. Oder nur eine." Johannes deutete ein Lächeln an. „Das kommt darauf an, wie man es sieht."

Veronika wurde aus seiner Antwort nicht schlau und Pilatus, der im Hintergrund unruhig auf seinem Sitz herumrutschte machte die Situation nicht entspannter. Vor ein paar Wochen waren er und Josef noch so eilig gewesen, an ihren Schleier zu kommen. Was war mit dem Lebensblut, das angeblich mit beerdigt werden musste...?
„Ihr könnt ihn behalten", sagte Veronika mit einer Geste zu ihrem Schleier hin. „Ich habe ihn Euch geschenkt."

„Ich weiß." Johannes blieb ganz ruhig auch wenn ihm Veronikas leicht ärgerliche Stimme nicht entgangen sein konnte. „Das war sehr großzügig von Euch. Aber wir brauchen ihn nicht mehr. Ein Lebender benötigt keine Leichentücher. Und Euch hilft er vielleicht mehr als uns."

Veronika horchte auf. „Was soll das heißen, ein Lebender benötigt keine Leichentücher?"

Ein Leuchten huschte über Johannes' Gesicht und plötzlich schien er zu strahlen. Es wirkte, als hätte er nur auf diese Gelegenheit gewartet. „Er lebt", sagte er, „Und wir haben ihn gesehen."

Pilatus ließ ein Schnauben hören, doch Veronika starrte ihn einfach nur an. Wieder sah sie Bilder in ihrem Kopf. Ein Sturm, eine Dunkelheit, die heranzog und Josefs Worte dazu. Es ist vorbei.
Ihr Mund wurde trocken. „Das kann nicht sein. Er ist gestorben."

Johannes trat noch ein paar Schritte zu ihr, bis er direkt vor ihr stand. „Er ist gestorben", bestätigte er. „Aber er ist auferstanden."

„Das reicht!" Pilatus hatte sich von seinem Stuhl erhoben und funkelte die beiden zu seinen Füßen an. „Du gibst Veronika, was ihr gehört und verschwindest, bevor ich dich bestrafen lasse. Diesen Unsinn will ich nicht mehr hören. Veronika, nimm das Tuch und komm. Veronika...!"

Sie hörte ihn nicht richtig. Immer noch starrte sie Johannes an, der den Schleier jetzt in ihre Arme legte. Erst als sich ihre Finger um den zarten Stoff schlossen, kam sie zur Besinnung.
„Ist es wahr?", hauchte sie, so leise, dass es Pilatus nicht mitbekam.

Johannes nickte kaum merklich. „Wir hatten Angst und haben uns lange versteckt. Aber das hat sich geändert."

„Erzählt es mir. Erzählt mir alles!"

„Kommt in Euren Garten", wisperte Johannes mit einem Seitenblick auf Pilatus. „Zwei Stunden vor Sonnenaufgang. Ich kann Euch zu den anderen bringen."

Anschließend richtete er sich auf.

Veronika wollte ihn aufhalten. Sie war aufgeregt, verwirrt, hatte Fragen, doch Johannes schien nicht auf sie zu achten.

„Ich werde Euch verlassen", rief er laut an Pilatus gewandt, bevor er im Gehen noch einmal Veronika ansah. Er lächelte zum Abschied. „Ihr seid nicht allein, Veronika." Dann, wie als hätte er ihre Gedanken gelesen, sagte er. „Und nein. Es ist nicht vorbei."

VeronikaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt